Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
lange, liebevolle Umarmung. Er schloss seine Augen und genoss den Augenblick. Als sie langsam die Umarmung löste und Leonard die Augen öffnete, sprang er vor Schreck fast auf. Auf der Treppe saß Natalia und blickte nachdenklich durch die Stäbe des Treppengeländers. Als sie bemerkte, wie ihr Vater sie anstarrte, verschwand sie schnell.
Wie lange war sie schon da gewesen? Wie viel hatte sie wohl mitbekommen?
Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass der Fernseher fast den gesamten Abend über auf voller Lautstärke gelaufen war und dass sie an den verräterischen Stellen ihrer Unterhaltung unauffällig geflüstert hatten. Dennoch verflog seine Erleichterung schnell wieder, als er daran dachte, was Garrett beim Verlassen des Hauses geschrien hatte.
Jeder, der dreizehn oder älter ist, kann eine staatliche Vormundschaft beantragen.
Natalia würde am Donnerstag dreizehn werden. Dachte sie vielleicht schon über die radikale Idee nach, aus ihrem Elternhaus wegzuziehen und stattdessen in einer Art Sozialwohnung zu leben? Würde er sie verlieren, bevor er überhaupt die Möglichkeit gehabt hatte, sie richtig kennenzulernen? Er versuchte sich zu beruhigen, indem er sich an den Verlauf des Abendessens erinnerte. Garrett war feindselig und respektlos gewesen, aber Natalia schien sich nach väterlicher Zuwendung zu sehnen. Außerdem hatten sie für ihren Geburtstag ja scheinbar irgendeine Art Ausflug geplant.
Es ist noch nicht alles verloren , sagte er sich… noch nicht.
Kapitel Fünf
Bei der Vorbereitung des Frühstücks am nächsten Morgen herrschte betretenes Schweigen. Natalia half ihrem Vater beim Backen der Pfannkuchen, sagte jedoch kein Wort, während sie den dünnen Teig in die Pfanne goss, und stand wie eine schweigsame Assistentin neben ihm. Zuvor hatte er sie gefragt, wo Milch und Eier waren. Garrett hatte die letzte Milch ausgetrunken, als er den Muffin gegessen hatte. Natalia gab daher einfach einen großzügigen Schuss Öl und eine halbe Tasse Wasser in den Teig. Obwohl die Masse immer noch sehr dünn war, schien sie fest genug, um daraus Pfannkuchen zu machen. Natalia goss den Teig in die Pfanne und wendete schweigend die Pfannkuchen, einen nach dem anderen.
Leonard folgerte, dass seine Tochter die Auseinandersetzung zwischen ihm und Garrett gehört hatte. Sie erkundigte sich auch nicht nach dem Grund für die Abwesenheit ihres Bruders. Offensichtlich überraschte sie sein Fehlen am Frühstückstisch nicht. Die Tür zu seinem Zimmer stand sperrangelweit offen. Dies konnte ihr nicht entgangen sein. Garrett war weg und Natalia hatte nichts dazu zu sagen.
Das junge Mädchen schwieg noch immer, während sie die Pfannkuchen und eine mit Wasser verdünnte Flasche Sirup auf den Tisch stellte. Leonard suchte im Kühlschrank nach der Butter, jedoch ohne Erfolg. Weil er in dieser heiklen Situation niemandem auf die Nerven gehen wollte, gab er die Suche auf und begleitete die Damen zum Frühstückstisch. Alina goss schwarzen Tee in drei blaue Tassen. Leonard wollte nach Zucker fragen, aber die allgemein gedrückte Stimmung und der Schmerz des Verlustes ließen Zucker wie einen unnötigen Luxusartikel erscheinen. Die Familie setzte sich schweigend an den Tisch. Natalia konzentrierte sich auf ihren Teller und verteilte einen Klacks Sirup auf ihrem Pfannkuchen. Weil er die Stille nicht länger ertragen konnte, entschied sich Leonard, das Offensichtliche anzusprechen.
„Die Sache mit deinem Bruder tut mir leid, Natalia.“
Das Mädchen sah nicht auf.
Alina starrte Leonard verärgert an.
„Ich hoffe, du bist glücklich hier mit uns“, sagte er und ignorierte den Blick seiner Frau. Völlig erschöpft von der langen Nacht, in der er alles über die Absurditäten dieser neuen Welt gelernt hatte, war Leonard nun sehr emotional und gereizt.
Natalia starrte ihren Vater an. Es sah so aus, als wollte sie etwas sagen, aber sie brachte kein Wort hervor. Stattdessen schüttelte sie den Kopf und widmete sich wieder ihrem Pfannkuchen.
„Das reicht, Leonard“, sagte Alina scharf. „Warum konzentrierst du dich für heute nicht auf deine eigene Aufgabe?“ Sie zog wissend eine Augenbraue hoch und Leonard fiel wieder ein, dass er seinen ABV–Ausweis finden musste. Er unterdrückte ein Stöhnen. Alina fuhr heiter fort: „Natalia, arbeitest du heute Nachmittag mit deinen Freunden weiter an deinem Sozialkundeprojekt?“
„Ich habe keine Freunde.“
„Ach, Schätzchen—“
„Ich habe es eh schon
Weitere Kostenlose Bücher