Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Geklapper in der Küche störte seine Konzentrationsfähigkeit. Er sah einen Augenblick über seine Schulter und führte dann seinen Gedanken fort.
Es ist einen Versuch wert. Vielleicht lande ich dann irgendwo anders, aber es wird auf jeden Fall besser sein als das hier. Kinder unter staatlicher Obhut? Ich muss in den eigenen vier Wänden flüstern? Und warum zum Teufel arbeite ich für etwas, das sich ‚Amt für Befragung und Verteidigung‘ nennt? Ihm lief ein Schauer über den Rücken.
Die Musik im Fernseher verstummte plötzlich und eine näselnde Männerstimme unterbrach das Programm.
„Dies ist eine öffentliche Bekanntgabe des Staatsdienstes. Hiermit werden alle Frauen darauf hingewiesen, dass sie nach Bestätigung eines positiven Schwangerschaftstest sofort beim nächstgelegenen Gesundheitsministerium vorstellig werden müssen.“
Ein rot–goldenes Logo mit den Buchstaben GM erschien auf dem Bildschirm. „ Schwangerschaftstests erhalten Sie kostenlos in jeder Apotheke. Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet, stets Ihre Verfassung zu prüfen. Die CARS–Untersuchung kann schon bei einer zweimonatigen Schwangerschaft durchgeführt werden. Bedauerlicherweise steigt die Zahl positiver CARS–Föten. Bereiten Sie sich auf ein solches Ergebnis vor. Sollte Ihr Test positiv ausfallen, muss die Schwangerschaft sofort zum allgemeinen Wohl und Schutz der Gesundheit aller abgebrochen werden. Eine Nichteinhaltung dieser Regelung wird als Staatsverbrechen gehandhabt und kann zu einer Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren führen. Ihr Barney Smith vom Gesundheitsministerium. Genießen Sie das nachfolgende Programm. Sie sehen: Eric Stehlen, ein Mann mit einer Vision.“
Alina kam mit dem Tee zurück. Sie schnappte sich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.
„Wir können uns glücklich schätzen, dass das Gesundheitsministerium einen Fetaltest für CARS entwickelt hat“, sagte sie heiter. Leonard sah sie an und bemerkte, dass unter dem gespielten Lächeln ihr Gesicht schmerzdurchzogen war. Alina reichte Leonard eine Tasse, setzte sich aber nicht zu ihm. „Dafür ist meine Abteilung verantwortlich. Ich entnehme Fruchtwasser und führe Tests durch.“
„Du führst Tests durch? Was ist mit OPs und all dem anderen schicken Doktorzeugs?“ Er zwinkerte ihr zu.
Seine Heiterkeit schien Alina nicht aufzumuntern. Sie sprach weiter, als hätte sie ihn nicht gehört. „Natürlich ist es schwer, wenn das Ergebnis positiv ist. Das passiert momentan immer öfter.“ Sie sah weg, als könne sie den Blick ihres Ehemanns nicht ertragen.
„Das tut mir leid, Alina.“
„Die Frauen, die zu uns kommen, sind darauf vorbereitet, schlechte Nachrichten zu bekommen.“ Sie ging zurück zu Leonard und setzte sich nervös auf die Kante der Couch.
Leonard konnte ihre Worte und ihren Gesichtsausdruck nicht ganz unter einen Hut bringen, sie passten einfach nicht zueinander. Außerdem konnte er nicht verstehen, wie eine Frau das Kinderkriegen überhaupt noch in Betracht ziehen konnte, wenn man ihr das Baby sofort wieder aus den Armen reißen würde. Ohne Weiteres zu glauben, dass sich die Situation innerhalb von neun Monaten ändern würde, schien naiv, wenn nicht sogar selbstzerstörerisch. Er wollte nicht in Alinas Haut stecken.
Plötzlich vergaß Leonard die traurige Lage, in der sich schwangere Frauen befanden, denn ihm wurde bewusst, dass er sich nun um seine Arbeit kümmern musste. Als er anfänglich dachte, dass dieser alternative Zeitstrahl nur ein Traum war, schien der Job ein spannendes Geheimnis zu sein. Jetzt war er real, ein Angst einflößendes Mysterium. Es war klar, dass man nach ihm fragen würde, wenn er nicht zur Arbeit erschien und so, wie Alina die Regierung und deren Unmengen an Vorschriften und Strafen beschrieben hatte, bezweifelte er, dass er spontan einen Forschungsurlaub nehmen konnte. Er lehnte sich zu Alina vor und flüsterte ihr ins Ohr.
„Muss ich morgen zum ABV gehen?“
„Morgen ist Sonntag.“
Leonard überkam eine Welle der Erleichterung.
„Aber wir müssen deinen Ausweis finden und uns überlegen, wie du dich durch den Tag schummeln sollst.“
„Ich brauche einen Ausweis, um reinzukommen?“, fragte er besorgt.
„Ich weiß, dass er nicht in deiner Brieftasche ist. Da hab ich schon nachgesehen.“ Sie zuckte verlegen mit den Schultern.
Er stöhnte. „Dann gibt es bestimmt auch Passwörter und Zugangscodes.“
Alina zog ihn für eine Umarmung zu sich heran; es war eine
Weitere Kostenlose Bücher