Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
seine Sachen zusammen und verließ seine Arbeitskabine. Er sah ein letztes Mal über seine Schulter und wunderte sich, was er wohl sehen würde, wenn der WLN02–Bildschirm noch an wäre. Würde er sehen, wie ein blinkender, roter Punkt das südöstliche Gebäude des ABV–Komplexes verließ und sich Richtung Westen in die Stadt bewegte, bis er schließlich in Leonards Wohnzimmer zum Stillstand kam?
Der Aufzug bewegte sich ruckartig nach oben und brachte Leonard aus dem Gleichgewicht. Er fiel gegen die hintere Wand. Er krümmte sich nach vorne, aber nicht wegen der daraus resultierenden Schmerzen, sondern, weil ihn plötzlich ein Schwall der Übelkeit überkam; Leonard versuchte, langsamer zu atmen. Sein scharfer Verstand beantwortete ihm jedoch die schon längst lächerlich wirkende Frage.
Genau das würde er sehen.
Kapitel Zehn
Leonard war immer noch leicht schwindelig und er hätte beinahe seinen Bus an der Transfer–Station verpasst. Als er sich mit Alina am Auffangparkplatz traf, schien sie noch schweigsamer und niedergeschlagener als sonst.
„Lass uns später reden“, sagte sie und schwieg für den Rest der Fahrt. Irgendetwas bedrückte sie, aber Leonard vermutete, dass er aus ihr nichts herausbekommen würde, bis sie später am Abend einige Couch–Kissen zurechtgerückt und für einen blökenden Fernseher gesorgt hätte. Er entschloss sich, es ihr gleich zu tun und seine beunruhigenden Neuigkeiten ebenfalls während des Fernsehabends bekannt zu geben.
Als sie zuhause ankamen, war Leonard viel zu unruhig, um sich zu entspannen. In dem Moment, als er das Haus betrat, zog er sofort seine Uhr aus und warf sie auf den Tisch neben der Tür. Anschließend stellte er seinen Aktenkoffer ganz hinten in den Schrank und entfernte sich so schnell wie möglich vom Hauseingang.
Alina beschäftigte sich sofort in der Küche und klapperte mit dem Abwasch. Obwohl Leonard annahm, dass sie sicherlich nichts gegen etwas Hilfe gehabt hätte, konnte er seine Sorgen einfach nicht lange genug vergessen, um seine Zeit mit Hausarbeiten zu vertrödeln.
Natalia deckte mechanisch und wenig erfreut den Tisch. Als sie fertig war, fragte sie ihre Mutter: „Kann ich vor dem Abendessen noch einen kurzen Spaziergang machen?“
Alina antwortete nicht.
„Mom?“
Als ob sie gerade aus einem Drogennebel gerissen worden wäre, drehte sich Alina mühselig vom Herd weg und sah ihre Tochter an. „Was?“
„Kann ich vor dem Abendessen noch einen kurzen Spaziergang machen?“
„Natürlich“, antwortete Alina teilnahmslos. „Aber nicht später als halb sieben.“
Natalia nickte. „Danke, Mom.“
„Verdammt“, rief Alina und zog schnell einen Topf vom Herd. Etwas rote Soße war auf ihren Arm gespritzt und sie wischte es mit einem Geschirrtuch ab. Frustriert fuhr sie Leonard an. „Kannst du wenigstens den Schimmel vom Käse abschneiden und das Brot auf den Tisch stellen?“
Er gehorchte, war jedoch entsetzt über den Zustand des Essens. Das steinharte Brot sah nicht gerade appetitlich aus und der Käse war mit weiß–grünen, pelzigen Schimmelflecken übersät. „Ich dachte, du warst gestern erst einkaufen gewesen.“
Alina knallte einen Holzkochlöffel auf den Tresen. „Das Brot war schon so alt. Das war alles, was sie noch hatten. Und wir müssen diesen Käse erst aufessen, bevor wir einen neuen kaufen, sonst liegen gleich zwei schimmlige Käseblöcke im Kühlschrank rum.“
Leonard warf die Hände in die Luft. „Tut mir leid. Ich wusste nicht—“
„Ganz genau. Du weißt nie etwas.“ Sie murmelte noch irgendetwas in sich hinein.
Schweigend befreite Leonard den Käse vom Schimmel und legte die zwei angeforderten Lebensmittel auf den Tisch. Ich kann einfach nicht lang genug zur Ruhe kommen, um dir zur Hand zu gehen. Du wirst verstehen warum, sobald wir die Möglichkeit haben, zu reden.
Man hörte, wie die Tür hinter Natalia zufiel, als sie das Haus eilig verließ. Leonard fragte sich, was er wohl beobachten würde, wenn er ihr folgte. War es wirklich nur ein abendlicher Spaziergang? Was genau machte Natalia? Ihn überkam plötzlich ein unbegreiflicher Wutanfall, sodass Leonard die Treppe hinauflief und in Natalias Zimmer stürmte. Wenn es wirklich Drogen gab, wollte er sie ausfindig machen. Er fing an, in ihrem Nachttisch herumzuwühlen. Darin fand er eine braune Papiertüte, in der sich ein Buch namens Der Geber befand. Während er durch das Buch blätterte, fluchte er in sich hinein. Es waren keine
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