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Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meira Pentermann
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was sich in der Box befand, es sich jedoch nicht um Drogen handelte, was zum Teufel war es dann? Er lief zu ihr hinüber und zog sie von ihrer Mutter weg.
    Er ignorierte Alinas ermahnende Blicke und sprach Natalia direkt an. „Ich glaube dir. Aber du musst mir eines sagen. Was ist in der Box? Wovor hast du so viel Angst?“
    Natalia riss ihre Augen weit auf. Sie war kurz davor, noch einen Gefühlsausbruch zu bekommen, das tapfere Mädchen kämpfte jedoch dagegen an und konnte den Zusammenbruch abwehren. Während sie antwortete, sah sie ihren Vater nicht an. „Mein Tagebuch.“
    „Dein Tagebuch?“
    „Ja.“
    Leonard packte sie am Arm. „Dann vergräbst du im Hinterhof also Seiten aus deinem Tagebuch?“
    Natalia wurde blass.
    „Sei still, Leonard. Sei einfach still“, flüsterte Alina schroff. „Wir werden jetzt alle zurück zum Tisch gehen und so tun, als wenn wir eine normale Familie wären. Verstanden?“
    Leonard starrte Alina zornig an, gab aber nach und ging schweigend zurück an seinen Platz. Während des restlichen Abendessens stellte Alina harmlose Fragen und Natalia beantwortete sie dankbar und mit gespielter Fröhlichkeit. Leonard widmete sich wieder seiner eigenen inneren Unruhe.
    Die Satelliten. Der Ortungs–Button. Als sich Leonard den rot blinkenden Punkt vor seinem geistigen Auge vorstellte, schauderte es ihm unwillkürlich. Er beobachtete seine Tochter, wie sie auf dem Stuhl saß, sich unbeschwert mit ihrer Mutter unterhielt und damit einerseits seine Neugier abwehrte, andererseits das Trugbild aufrechterhielt, das die Familie weiterhin in Sicherheit wog. Sollten die Lauscher vom WLN genau in diesem Moment entscheiden, ihre Unterhaltung abzuhören, würden sie aus purer Langeweile zur nächsten Familie übergehen. Ganz plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen; die schmerzhafte Realität war wie ein Schlag ins Gesicht, der auf seiner Haut brannte. Er war keinen Deut besser als diese stumpfsinnigen Spione, die sich in das Leben anderer einmischten. So, wie er die Sachen seiner Tochter durchwühlt und rücksichtslos durcheinandergeworfen hatte, folgte er quasi den Richtlinien des Staates – Privatsphäre eliminieren und Individualität ersticken. Was auch immer seine Tochter in der persönlichen Box aufbewahrte, es war es nicht wert, dass sich Leonard auf dieses Niveau herabließ.
    Er stand leise auf und räumte bereitwillig das Geschirr ab. Alina und Natalia sahen sich kurz an und halfen ihm anschließend.
    Natalia trennte den Müll peinlich genau. Leonard beobachtete sie dabei heimlich. Weißglas, Braunglas und Grünglas, jedes hatte seinen eigenen Abfallbehälter. Leonard entdeckte außerdem zwei Container für verschiedene Kunststoffsorten. Daneben standen zwei große Kisten mit Altpapier, einschließlich Servietten und Reklame. Pflichtbewusst kratzte Leonard die Reste auf den Tellern in den Biomüll hinein und versuchte dabei zu wirken, als ob diese Prozedur reinste Routine für ihn wäre.
    Er flüsterte Alina zu: „Dieses Recycling–System ist ziemlich cool.“
    Mit monotoner Stimme erwiderte Alina: „Es wird auf dieselbe Mülldeponie gebracht und zusammen verbrannt, nur der Biomüll nicht.“
    Leonard entgegnete störrisch: „Wozu dann das Ganze?“
    „Ich habe keine Lust eine 500 $ Geldstrafe zu bekommen.“
    Leonard wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, also widmete er sich wieder seiner momentanen Aufgabe.
    Fünfzehn Minuten später hatten sie das gesamte Geschirr in die Spülmaschine geräumt, den Küchentresen abgewischt und die Reste sorgfältig verpackt im Kühlschrank verstaut.
    Natalia griff nach der Hand ihres Vaters. „Ich würde gerne einen Spaziergang machen und dabei etwas Musik hören.“
    Leonard zog seinen Kopf leicht zurück und musterte ihren Gesichtsausdruck.
    „Ich werde nicht in Schwierigkeiten geraten. Ehrlich, Dad. Du musst mir einfach vertrauen.“
    Leonard nickte.
    „Vielleicht häng ich auch nur in meiner alten Festung herum. Es war ein ziemlich schlimmer Tag und ich möchte einfach alleine sein.“
    Schlimmer Tag? Wenn du wüsstest.
    Natalia schnappte sich ihre Schuhe und schlüpfte durch die Hintertür hinaus. Leonard beobachtete sie nervös und fragte sich, ob er ihr folgen sollte.
    Alina klopfte ihm auf die Schulter. „Lass sie gehen. Sie ist ein braves Mädchen.“
    Bei all den Sachen, die sie noch zu besprechen hatten, schien Natalias mysteriöses Loch im Hinterhof eher weniger dringlich. Trotzdem machte sich Leonard Sorgen.

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