Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
„Wie kannst du so sicher sein, dass sie keine Drogen nimmt?“
„Sie geht nicht viele Risiken ein, Leonard. Ich musste sie schon zu so einigem drängen, damit sie überhaupt mal etwas von der Welt erlebt.“
„Das heißt nicht, dass—“
„Sie ist in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der sich die Regeln ständig geändert haben. Bescheuerte Regeln für belanglose, lächerliche Dinge.“ Alinas Stimme wurde düster. Ihre Wut kam zum Vorschein. „Einmal, als sie neun war, weigerte sie sich, zur Schule zu gehen. Sie saß weinend auf dem Boden und war völlig hysterisch. Ich brauchte eine Stunde, bis sie mir endlich sagte, was los war. Ich war total außer mir vor Wut. Ich habe mich an diesem Tag krankgemeldet. Schließlich erzählte sie mir, dass sie nicht zur Schule gehen konnte, weil ihr Rock zweieinhalb Zentimeter zu kurz war. Ich hatte es immer wieder aufgeschoben, ihr einen neuen zu kaufen. ‚Dieser passt doch noch‘, hatte ich ihr immer ungeduldig gesagt. Ich wollte kein Geld verschwenden. Es schien mir das Vernünftigste zu der Zeit.“
„Zweieinhalb Zentimeter zu kurz? Armes Ding. Was für ein Unsinn.“
„Es war kein Unsinn.“
„Ach, komm schon, Schatz. Sie wäre ja dafür nicht gleich der Schule verwiesen worden.“
„Scheinbar wurde die Woche zuvor ein Mädchen nach Hause geschickt, weil es einen Rock getragen hatte, der die Knie zeigte.“
„Das kann nicht dein Ernst sein.“
„An dem Nachmittag sind wir losgegangen und haben einen neuen Rock gekauft. Eine perfekte, genau den Vorgaben entsprechende, BMSS 7934 Schuluniform.“
„Meine Güte.“
„Seitdem sie das Thema überhaupt verstehen konnte, wurde sie darüber belehrt, dass jeglicher Besitz von Drogen, egal ob sie konsumiert wurden oder nicht, zur Folge hat, dass die gesamte Familie ins Gefängnis kommt.“
Leonard schüttelte entsetzt den Kopf.
„Dieses Mädchen nimmt keine Drogen“, fuhr Alina fort.
Er nickte. „Ich glaube dir.“
Er zog seine Frau zu sich ran, um sie zu umarmen, und atmete erleichtert aus. Sie hielten sich gegenseitig einige Minuten in den Armen. Es dauerte nicht lange und Alinas Körper fing an zu zittern und Leonard hörte, wie sie weinte. Sie hielt ihren Mund dicht an sein Ohr.
„Ich muss mit dir reden. Heute ist etwas Schreckliches passiert.“
„Du wirst nicht glauben, was ich dir alles erzählen muss. Dieser Tag hat mich völlig—“
„Ich muss zuerst anfangen.“ Ihre Stimme zitterte. „Ich kann das nicht länger für mich behalten.“
Kapitel Elf
Mit unglaublicher Eile stellte Alina den Fernseher und das Radio an. Die daraus entstehenden Missklänge bereiteten Leonard bereits Kopfschmerzen, bevor er überhaupt die Couch erreicht hatte. Er dachte, dass er unter all dem Lärm unmöglich Alinas Worte herausfiltern und ihrer Geschichte folgen könnte, insbesondere bei seiner Geschichte würde er Probleme haben, weil sie noch viel heikler war. Dennoch wollte er sich alle Mühe geben, geduldig und aufmerksam zu sein.
„Die Neunundzwanzigste Gesetzesänderung war ein historischer Meilenstein“, erklärte ein Fernsehsprecher.
Leonard stöhnte. Er erkannte die Sendung wieder. Es war Eric Stehlen, ein Mann mit einer Vision.
„Absolut“ , stimmte ihm ein zweiter Mann zu. „Und auch die Aufhebung des Zweiundzwanzigsten Gesetzes war nicht gerade unwichtig.“
„Was genau ist die Zweiundzwanzigste Gesetzesänderung, Alina?“
„Ich bin nicht in der Stimmung, Leonard.“
„Kannst du nicht kurz—“
„Begrenzung der Amtszeit. Ich muss mit dir reden.“
„Begrenzung der Amtszeit?“
„Können wir bitte reden?“, flehte Alina ihn an.
„Aber wenn man bedenkt, in welchem Zustand sich das Land befand und dass der Nationale Notstand ausgerufen werden musste, war es eine der besten Entscheidungen seit Jahrzehnten.“
Leonard zwang sich dazu, die Fernsehsprecher für einen Moment auszublenden, und nahm Alinas Hand. „In Ordnung, Schatz. Schieß los.“
„Ich habe heute einige pränatale CARS–Tests gemacht“, sagte Alina.
„Können Sie sich vorstellen, wie unser Leben ausgesehen hätte, wenn Stehlen nicht im Weißen Haus gewesen wäre?“
„Das reinste Chaos, Brady. Das reinste Chaos.“
„Dabei war es anfänglich die Achtundzwanzigste Gesetzesänderung, die die größten Unruhen verursachte.“
„Erinnern Sie sich an all diese Mitleid erregenden Protestierenden? Ein wilder Haufen war das.“
Der Fernsehsprecher lachte in sich hinein. „Letztendlich haben
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