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Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meira Pentermann
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dass es einfach weniger Operationen gab. Medizinische Rationierung…, aber sie schienen die Doktoren auch zu isolieren. Ärzte durften sich gegenseitig nicht mehr anrufen. Um einen Rat einzuholen, mussten wir einen Antrag stellen. Die Schreibarbeit war ein Albtraum und sie ließen sich beim Bearbeiten der Anträge auch noch ordentlich viel Zeit. Wenn sich dann der von der Regierung beauftragte beratende Arzt endlich blicken ließ, war er oder sie meistens ein totaler Schwachkopf. Ich habe mich manchmal sogar gefragt, ob sie überhaupt Ärzte waren.“ Ihr Blick schweifte in die Ferne ab und fixierte dort einen Punkt. „Als die CARS–Epidemie dann losging, hatten sie uns schon völlig isoliert und wir waren nur noch ein kleines Zahnrad innerhalb ihrer Maschinerie.“
    „Du? Ein Zahnrad in einer Maschinerie?“
    „Ich darf noch nicht mal mehr LPs durchführen.“
    „Was sind LPs?“
    „Lumbalpunktionen. Damit entnimmt man Rückenmarksflüssigkeit. So testen sie auf CARS.“
    „Oh.“
    „Wie dem auch sei, ich habe keine LPs mehr durchgeführt. Nur noch Patienten vorbereitet, Proben ins Labor gebracht und Daten in die nationale Datenbank eingetragen, sobald die Ergebnisse da waren. Im Grunde wurden mir die Aufgaben der Assistentin einer Krankenschwester aufgetragen.“
    „Warum dein Talent verschwenden?“
    „Ich weiß es nicht und ich habe auch nicht nachgefragt. Im Vergleich zu vielen anderen hatten wir es noch ziemlich gut und ich wollte keinen Staub aufwirbeln. Aber dann wurdest du zum ABV geschickt und hast dich so wahnsinnig verändert.“
    „Das hab ich schon öfter gehört.“
    „Und—“
    „Moment. Ich wurde geschickt?“
    „Ja, was hast du denn gedacht?“
    „Sie haben mich nicht angeworben?“ Sein Herzschlag beschleunigte sich.
    „Sie werben niemanden an, Leonard.“
    „Also wollte ich eigentlich bei IBM bleiben?“
    „Natürlich. Du fandest das ABV unheimlich.“
    Ihn durchfuhr ein wohliges Gefühl. „Ich war nicht begeistert von dieser Gelegenheit? Die Jungs vom ABV kamen eines Tages einfach vorbei und teilten mir mit, dass ich für sie arbeiten müsse?“
    „So in etwa. Du hattest einen Brief von ihnen in der Post und musstest zu einem Treffen mit jemandem. Du hast nicht darüber geredet. Irgendwann wurden alle Techniker – egal ob für Computer, Elektronik oder sonst was – entweder eingezogen oder sie gingen freiwillig.“
    „Sie verließen IBM?“
    „Sie verließen Denver. Ich weiß nicht, wo sie hin sind oder wie sie überhaupt flüchten konnten, aber IBM schloss sechs Monate, nachdem du angefangen hattest, für das ABV zu arbeiten.“
    Leonard kniff die Augen zusammen. „Was meinst du damit, du weißt nicht, wie sie flüchten konnten?“
    „Unter dem Vorwand, dass wir uns im Nationalen Notstand befanden, standen alle unter Quarantäne. Die Regierung siedelte die Menschen in die größeren Städte um und es folgte eine landesweite Aktion zum Bau von Kliniken und Gefängnissen. Innerhalb eines Jahres hatten sie die Leute entweder zusammengepfercht, ins Gefängnis gesteckt oder in die Klinik eingewiesen.“
    „Was ist der Unterschied zwischen dem Gefängnis und der Klinik? Wenn es eigentlich gar keine Krankheit gibt, warum sich dann die Mühe machen?“
    „Ich weiß es nicht genau. Sie unterscheiden zwischen politischen und gewöhnlichen Gefangenen, nehme ich mal an. Oder vielleicht wollen sie auch einfach nur den Schein aufrechterhalten. Wie auch immer, danach fingst du auf jeden Fall an, für das ABV an wer weiß was für Projekten zu arbeiten.“
    Er sah weg und versuchte sich vorzustellen, wie der andere Leonard aus seinem normalen Leben gerissen und dazu gezwungen wurde, einen Spionage–Satelliten zu entwickeln.
    „Und dann hattest du immer diesen Gesichtsausdruck.“
    „Hä?“
    „Genau den Ausdruck, den du jetzt gerade hast. Dieser abwesende, fast tote, lass–mich–in–Ruhe Ausdruck in deinen Augen.“
    Leonard konzentrierte sich wieder auf seine Frau und lächelte leicht. „Tut mir leid.“
    Sie erwiderte sein hilfloses Lächeln und nahm damit die Entschuldigung an. „Als mein Leonard verschwand, zerbrach ich innerlich. Ich ging weiterhin zur Arbeit und heuchelte Zufriedenheit, aber tief in mir drin lief ich die Wände hoch. In meiner Freizeit habe ich mich stundenlang in der Bücherei aufgehalten, um die staatlich genehmigten Nachrichten zu verfolgen, in der Hoffnung, dabei herauszufinden, wie viele Menschen in wie viele Städte zusammengepfercht wurden.

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