Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Ich nahm die Webseiten der Regierung genau unter die Lupe und versuchte zwischen den Zeilen zu lesen.“
    „Warst du erfolgreich?“
    „Nein. Bis eines Tages ein Mann an meinen Rechner kam und sich über meine Schulter beugte. Er tat so, als wenn ich ihn gerade um Hilfe gebeten hätte. ‚Ich weiß, was passiert ist‘, sagte er. ‚Sie müssen nur auf Aktualisieren drücken.‘ Er gab eine Seite der Regierung mit der Endung .gov ein und tippte ans Ende noch Schrägstrich–GR2589 ein. ‚Sie werden kommen und gehen‘, flüsterte er. Dann verschwand er. Ich habe ihn nie wieder gesehen.“
    „Was war auf der Webseite zu sehen?“
    „Die andere Seite der Geschichte. So wie ich das bisher verstanden habe, hängen sich die GR–Seiten versteckt an die Webseiten der Regierung ran. Normalerweise dauert es nicht länger als eine Woche, bis sie wieder verschwinden.“
    „Was bedeutet GR?“
    „Gegenrevolutionäre.“
    Leonard schüttelte den Kopf. „Muss denn alles in dieser Realität in Abkürzungen ausgedrückt werden?“
    Sie schubste ihn leicht an der Schulter. „Die GR–Webmaster posten Amateur–Spionage–Fotos und Daten. Einer Quelle zufolge leben mittlerweile um die fünf Prozent der gesamten U.S.–Bevölkerung in völliger Freiheit. Sie wurden entweder nie gefasst… oder konnten entkommen. Nur ein kleiner Teil des Militärs ist damit beauftragt, Flüchtlinge ausfindig zu machen. Diese speziellen Truppen werden Denunziantenjäger genannt, aber heutzutage statten immer weniger DJ–Einheiten Bericht ab. Eine GR–Seite hat sogar bestätigt, dass viele Denunziantenjäger mittlerweile zum Feind übergelaufen sind.“
    Leonard lächelte. Die Vorstellung, dass es irgendwo noch freie Menschen gab, die weit entfernt von diesem Albtraum lebten, ließ ihn für die Menschheit wieder Hoffnung schöpfen.
    „Wie dem auch sei, an einem Nachmittag, ungefähr neun Monate nachdem du angefangen hattest, für das ABV zu arbeiten, fand ich eine GR–Webseite, die höchstens einen Tag lang online war. Der Blogger der Seite behauptete, dass die CARS–Epidemie nur inszeniert sei und versprach, Beweise zu liefern. Aber die Seite verschwand, bevor er die Möglichkeit hatte, die Informationen zu posten.“
    „Also hast du selbst Beweise gesucht.“
    „Ich kann nicht glauben, dass ich die ganze Geschichte niemals infrage gestellt hatte. Es war nur ein kleiner Abstecher in eine andere Abteilung nötig. Nachdem die Datenbank vollständig war, und bevor ich anfing, für sie zu arbeiten, hatte ich jede Menge Zeit.“ Sie blickte in die Ferne. „Also begab ich mich eines Tages unauffällig in eines der Labors, in denen die besagten Tests stattfanden, denn ein Schwung Wiederholungstests war gerade im Gange. Collins war einige Monate zuvor verschwunden und es gab immer mehr Wiederholungstests.
    Sieben Facharbeiter kümmerten sich um die Proben der Rückenmarksflüssigkeit. Sie schienen wie in einer Fabrik an einem Förderband zu arbeiten. Sechs der Facharbeiter saßen auf der mir gegenüberliegenden Seite des Tisches hinter einem Wirrwarr von medizinischen Geräten und Kabeln, die bis zur Decke hinaufführten. Trotzdem konnte ich durch die Lücken der Apparate erkennen, was sie taten. Der erste Typ nahm ein Probenröhrchen, entfernte den Namen, klebte stattdessen ein Schildchen mit einer Nummer darauf und tippte etwas in seinen Computer. Dann zerschredderte er den Namen. Der nächste Typ gab etwas von der Probe auf einen Objektträger und fügte Anfärbereagenz hinzu. Rechts von ihm stand eine Box mit kleinen Glasröhrchen, gefüllt mit einer blauen Flüssigkeit. Er verwendete je Probe ein Fläschchen blaues Färbemittel. Nachdem der Objektträger vorbereitet war, beseitigte er die medizinischen Abfälle und widmete sich dem nächsten Proberöhrchen. Neben ihm untersuchten drei Facharbeiter die Objektträger unter einem Hochleistungsmikroskop. Jeder Facharbeiter betrachtete denselben Objektträger und gab dann eine Notiz in seinen oder ihren Computer ein. Der sechste Facharbeiter entsorgte die Objektträger schließlich. Die allerletzte Facharbeiterin saß mit dem Rücken zur Tür auf der anderen Seite des Fließbandes. Von dort aus, wo ich stand, konnte ich ihren Computerbildschirm sehen. Eine Weile lang bemerkte mich niemand, also beobachtete ich die Vorgänge sehr genau. Sobald eine Probe bearbeitet worden war, erschienen der Name und die dazugehörigen Informationen auf ihrem Bildschirm. Wenn der erste Mann auf eines der