Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
dafür muss ich wohl die Akte holen.‘ Dann meldete sich Facharbeiter Nummer eins wieder zu Wort: ‚Ich kann keinen John Thompson finden. Lizzy kann aber im System nachgucken, nicht wahr?‘ Er richtete sich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck an Miss Verschwörerin. Sie starrte ihn lediglich zornig an.“
Leonard grinste. „Erwischt.“
„Ja. Das brachte sie einen Augenblick lang aus dem Konzept. Schließlich erwiderte sie: ‚Ja, das kann ich, aber ich brauche dafür das Geburtsdatum, Kenny. ‘ Sie wurde ziemlich nervös.“
„Das kann ich mir gut vorstellen.“
„Die Regierung erwartete von Lizzy, dafür zu sorgen, dass die Untergebenen eben nicht eingeweiht waren. Dass weiter Proben und Objektträger hin– und hergereicht wurden. Der Status quo erhalten blieb.“
Leonard starrte an die Decke. „Ich frage mich, wie viele Menschen die Regierung dafür bezahlt, völlig sinnlose Arbeiten zu verrichten. Wie viel Zeit diese Menschen damit verschwenden müssen, Aufgaben zu erfüllen, die absolut keinen Nutzen haben.“
„Davon abgesehen, dass dadurch die Aufdeckung eines landesweiten Betrugs verhindert wird.“
„Genau.“ Er dachte über die Rolle nach, die er in diesem landesweiten Betrug spielte.
„Aber Lizzy wusste nichts von den Fläschchen, die ich in meine Tasche gesteckt hatte, also dachte ich mir, ich hielt besser die Klappe und versuchte, da schleunigst wegzukommen. Ich arbeitete mich langsam zur Tür vor und entschuldigte mich dabei für die Störung. Die meisten Facharbeiter nahmen ihre Arbeit wieder auf, aber Lizzy starrte mich die ganze Zeit über an. Ich erwiderte den Blick nicht, aber ich konnte spüren, wie sie mich mit den Augen verfolgte, bis ich um die Ecke gebogen war.“
„Also was war dann in den Fläschchen?“
„Das Anfärbereagenz. Richtig. Die etwas dunklere Flüssigkeit enthielt eine Art Virus, nichts Weltbewegendes, so etwas wie eine Grippe, und die hellere Flüssigkeit war einfach nur gefärbtes Wasser.“
„Meine Güte.“ Leonard rieb sich die Schläfe.
„Also war es völlig willkürlich. Je nachdem welches blaue Fläschchen Facharbeiter Nummer zwei aus der Box nahm, das war dann die Diagnose.“
„Und diese Diagnose war eigentlich völlig egal, da Lizzy die Ergebnisse eh änderte, während sie weiter machten.“
„Ganz genau. Völlige Zeitverschwendung.“
„Und dennoch sitzen Leute wegen genau diesem Testraum in der Klinik.“
„Nein. Leute landen in der Klinik, weil jemand von ganz oben ihre Namen markiert hat.“
Er nickte. „Woher wussten sie, dass du Bescheid wusstest? Hast du jemanden zur Rede gestellt?“
Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein. Ich war ein Feigling. Ich wusste, dass sie Leute schon für kleinere Vergehen ins Gefängnis gesteckt hatten. Wenn ich den Skandal, der erst alles das hier möglich gemacht hat, auffliegen lassen würde, würden sie mich hinrichten oder so etwas“, sagte sie. „Mittlerweile wünschte ich, sie hätten mich umgebracht.“
Leonard berührte zärtlich ihren Arm. „Hat dich Lizzy gemeldet?“
„Das nehme ich mal an. Ich bekam am nächsten Morgen Besuch . Ich versuchte, mich irgendwie rauszureden. Sagte ihnen, ich wüsste nicht, wovon sie redeten. Aber einer der Männer hielt zwei leere Anfärbereagenzfläschchen hoch. ‚Schon seltsam, wie diese Fläschchen dann genau in dem Labormülleimer landen konnten, der Ihrem Untersuchungsraum am nächsten liegt‘, sagte der Mann. Der andere fügte hinzu: ‚Und sonst wurde niemand anderes für mindestens vierundzwanzig Stunden in dem Labor gesehen.‘ Ich gestand, aber versprach im gleichen Atemzug, es niemandem zu verraten.“
„Sofort?“
„Ja, sofort“, gab sie mit Scham in den Augen zu. „Zu der Zeit dachte ich, dass es mich davor bewahren würde, ins Gefängnis zu kommen. Aber sie setzten noch einen drauf.“
„Natalia.“
„Damit hatten sie mich. Von da an war ich als menschliches Wesen wertlos.“
„Warum haben sie dich nicht einfach ins Gefängnis gesteckt?“
„Sie brauchten noch mehr Zahnräder in ihrem Getriebe, die Bescheid wussten, und ausgebildete Ärzte, die in Zeiten der Not die Drecksarbeit übernehmen konnten. Anfangs wollten sie, dass ich den gleichen Job wie Lizzy machte. Sie wollten mich in einen Testraum in einem anderen Flügel des Krankenhauses setzen. Gekleidet als Facharbeiterin würde eh keiner den Unterschied bemerken. Das ist das Schöne an Isolation.“
Leonard nahm ihre Hände und versuchte, ihren Blick
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