Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
etwas und esse es dann in meinem Büro. Ich will mich da nicht mehr mit irgendwem unterhalten müssen.“ Sie arbeitete sich langsam durch das Gebüsch und sah nach links und rechts, bevor sie wieder auf den Bürgersteig schlüpfte.
„Warum nimmst du dann nicht einfach was von zuhause mit?“, schlug er vor, während er ihr folgte. „Und wo wir gerade dabei sind, morgen will ich mein Mittagessen auch mitnehmen.“ Er ging einige Schritte weiter in Richtung seines Hauses, seine Frau folgte ihm jedoch nicht.
Als er sich umdrehte, sah er, wie Alina mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen dastand. „Das können wir uns nicht leisten, Leonard.“
Er neigte den Kopf zur Seite. „Ich kann mir nicht leisten, mein eigenes Mittagessen mitzunehmen?“
„Du nimmst nie dein eigenes Mittagessen mit. Du isst auf dem Stützpunkt. Ich esse im Krankenhaus. Die Kinder essen in der Schule.“
„Wir haben nicht genug Essen, um—“
„Hast du mal darauf geachtet, was es die letzten Tage so zum Abendessen gab?“
Leonard sah in den Sternenhimmel hinauf und versuchte, sich an die letzten Mahlzeiten zu erinnern. „Es war doch immer lecker.“ Er zählte an seinen Fingern auf. „Hackbraten, Fajitas, Chili. Und am Sonntag gab es Pfannkuchen.“
Sie ging auf ihn zu und begann seine Aufzählung zu berichtigen. Sie fauchte ihm die Worte förmlich ins Gesicht, während sie sich ihm immer weiter näherte. „Ein winziger Hackbraten mit verdünnter Soße. Fajitas ohne Gemüse und nur eine halbe Tortilla für jeden. Und Dosen–Chili mit trockenem Brot und schimmligem Käse. Außerdem dürfte dir vielleicht aufgefallen sein, dass es weder Eier noch Milch gab, als du Pfannkuchen machen wolltest."
„Wir sind arm?“, fragte Leonard, entsetzt darüber, dass er trotz seiner Position und des Respekts, der ihm entgegengebracht wurde, nicht gut genug zu verdienen schien, um seine Familie zu ernähren.
„Wir sind besser dran als andere.“
„Andere essen gar nichts?“
„Natürlich isst jeder etwas, Leonard, es sei denn, man ist auf der Flucht.“
„Das ist spitze, einfach—“
„Nur dass niemand wirklich viel isst und auch nicht wirklich gut. In den Geschäften steht so gut wie nichts in den Regalen.“
„Aber trotzdem—“
„Glaubst du etwa, das gefällt mir?“, sagte sie sarkastisch und zog die verschränkten Arme noch enger zusammen. „Wenn ich zur Verwirklichung dieser Utopie lediglich etwas hungern muss und dafür dann in einem unglaublich totalitären Staat leben darf, der seine Bürger ausspioniert, Kinder stiehlt, Frauen sterilisiert und Grenzen schließt, dann mache ich das doch gerne.“
Leonard seufzte.
„Fürs Erste“, blaffte sie ihn an, „wirst du dich mit dem zufriedengeben müssen, was ich auf den Tisch bringe.“
„Ich liebe dein Essen.“
„Gut. Dann liebe es. Und während du das tust, kannst du dich gleich mal mit dem Essen aus der ABV–Cafeteria anfreunden, sonst gibt es bald noch kleinere und weniger abwechslungsreichere Mahlzeiten.“
Er willigte kleinlaut ein.
Schließlich faltete sie die Arme wieder auseinander und nahm seine Hand. „Tut mir leid. Aber manchmal verhältst du dich wie ein Fremder.“
Sie liefen einige Minuten schweigend weiter in Richtung Haus. Während sie sich ihrem Garten näherten, murmelte Leonard gedankenverloren: „Ich wünschte, ich wäre einer.“
Alina streichelte seinen Arm und schmiegte sich an seinen Körper, während sie den Gehweg entlang schlenderten. Leonard stieg der Duft von Alinas Haut in die Nase und plötzlich verschwanden alle entmutigenden Gedanken an zombieartige Wächter und rot blinkende Punkte. Er stellte sich vor, wie er die Liebe seines Lebens geradewegs nach oben führte, sie auf das Bett legte und sich in einer ruhigen Ecke etwas Privatsphäre gönnte, um endlich ungehindert Zärtlichkeiten auszutauschen. Ein warmes Gefühl schoss durch seinen Körper und berauschte ihn beinahe völlig, als ihn plötzlich ein Schmerzensschrei aus dem Hinterhof der Familie Tramer zurück in der Realität holte.
„Lass mich in Ruhe, Garrett!“
Es war Natalia.
Kapitel Vierzehn
Alina fuhr zusammen, als sie den Namen ihres entfremdeten Sohnes hörte. Sie rannte auf das Haupttor zu, aber Leonard fasste sie an beiden Schultern und hielt sie zurück.
„Nein“, flüsterte er ihr scharf ins Ohr. Er hatte Angst, dass Garrett sie erneut mit wüsten Beschimpfungen bombardieren würde, und wollte seiner Frau eine Wiederholung der
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