Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
nachzulaufen, aber nur einen Moment später kam Natalia mit einer Box in der Hand zurück. Ihr liefen Tränen über die Wangen. Sie umklammerte schützend die Box und sah dabei hilflos und verängstigt aus. In einem Wutausbruch warf sie die Box auf den Boden.
„Die Box, Dad. Da hast du deine bescheuerte Box.“
Alina griff nach der Fernbedienung und machte den Ton lauter.
Eine Frauenstimme verkündete begeistert: „Der Garten des Weißen Hauses ist besonders schön in diesem Sommer. Sehen Sie nur, wie viel Freude diese kräftigen Grün– und Rottöne versprühen.“
Leonard blendete die Sendung aus und starrte auf Natalias Box. Aus ihr drang erneut Zitrusgeruch. Er unterdrückte einen Anfall von Übelkeit und fummelte an dem Zahlenschloss herum.
„ Und sehen Sie nur. Da ist die First Lady. Sie hat einen köstlichen Früchtekorb in der Hand. Vielleicht ein Geschenk eines Würdenträgers, der zu Besuch ist. Vielleicht ein Dankeschön eines treu ergebenen Bürgers?“
Leonards Würgereflex trug beinahe den Sieg davon.
„Gib her“, sagte Natalia, die über seine Schulter gebeugt dastand. Sie riss ihm die Box aus den Händen, legte sie auf den Couchtisch und öffnete das Zahlenschloss. Leonards Herz pochte wie wild. Während sie dramatisch mit den Armen herumfuchtelte, stand sie auf und verstreute den Inhalt der Box auf dem Boden. Es raschelte wild, während weiße Papierbündel gegeneinanderprallten und auf den Boden fielen. Es waren quadratische Päckchen und Rollen. Leonard griff nach einer Rolle. Sie sah ein wenig aus wie Eis am Stiel, nur ohne Stiel. Er riss das Papier an einer Stelle leicht auf und lunzte hinein. Auf einmal warf er den Gegenstand angewidert quer durch das Zimmer.
Natalias Schluchzen wurde lauter.
Alina stemmte die Arme in die Hüften und sah ihren Mann finster an. „Echt, Leonard. Werd erwachsen.“ Sie wendete sich ihrer Tochter zu. „Ist es das, was du verheimlicht hast? Oh, Schätzchen.“
Natalia drehte sich ganz plötzlich weg und stampfte mit dem Fuß auf eines der Papierbündel. Ihre Tränen verwandelten sich in Zorn.
„Du musst dich dafür doch nicht schämen“, sagte Alina sanft. „Du wirst zu einer jungen Frau. Das ist etwas Wunderbares.“
„Ist das dein Ernst? Das hier?“ Sie zeigte auf ihren Unterleib. „Das ist nichts Wunderbares. Das ist ein Fluch.“
„Ich weiß, dass es sich manchmal so anfühlt, aber—“
„Du weißt gar nichts“, schrie sie und ihre Stimme überschlug sich. „Du hast keine Ahnung, Mom!“
„Hast du etwa Angst, dass ich böse sein könnte?“ Sie nahm eine Rolle in die Hand und lächelte. „Die sind aus meinem Geheimversteck, nicht wahr?“
Natalia nickte.
„Die hatte ich für dich aufgehoben. Was dachtest du, für wen die sonst wären? Ich brauche die schon seit einigen Jahren nicht mehr. Ich bin froh, dass du sie gefunden hast. Sie sind ein seltener Luxusartikel.“ Sie nahm ein quadratisches Päckchen vom Boden. „Ich hätte dir aber eher Binden gekauft. Wo hast du das Geld her, um—?“
Leonard unterbrach sie. „Du versteckst Tampons im Hinterhof?“
Beide Frauen drehten sich um und starrten ihn zornig an.
„Ich meine, kannst du sie nicht einfach runterspülen, oder im normalen Müll entsorgen?“
„Es ist ziemlich schwer, mal eben unbemerkt Tampons in unserem ausgefeilten Entsorgungssystem da drüben verschwinden zu lassen.“ Sie gestikulierte in Richtung Küche.
„Aber Schätzchen“, sagte ihre Mutter. „Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest.“
„Ich schäme mich nicht“, schrie sie. „Ich habe…“
„Schon gut.“
„Ich habe Angst“, sagte sie so leise, dass man es neben der Stimme der ins Weiße Haus vernarrten Reporterin im Fernsehen kaum hören konnte.
„Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Du hättest einfach zu mir kommen sollen. Ich hätte dir alles gezeigt. Ich hätte dir die nötigen Artikel gekauft. Ich hätte es wunderbar gefunden, das mit dir zu teilen.“
„Aber dann hätte Garrett…“ Sie schnaufte und holte schließlich tief Luft.
Leonard setzte sich auf den Tisch. „Was hätte Garrett gemacht?“
„Er… er…“ Sie setzte sich hin. „Du hast keine Ahnung, was hier los ist.“
Leonard berührte ihren Arm. „Dann erklär es mir. Hat es irgendwas mit der Jugendbrigade zu tun? Muss du da jetzt eintreten, weil du deine Periode bekommen hast?“
Sie seufzte. „Die Jugendbrigade ist eine elitäre Gesellschaft. Verstehst du, ganz unten stehen die Inzuchtler.
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