Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
glauben, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass jemand… dass dir jemand so was antun könnte.“
„Wäre es dir lieber, wenn wir alle in der Klinik landen? Ich kann mir vorstellen, dass da noch viel Schlimmeres passiert.“
Leonard sank auf die Couch.
„Vielleicht kann mich Mom vor Freitag noch sterilisieren.“
„Schätzchen“, entgegnete Alina.
„Bitte, Mom. Das ist das Mindeste, was du tun kannst.“
„Ich habe weder die nötigen Instrumente noch Räumlichkeiten, um so einen Eingriff vorzunehmen—“
„Kannst du nicht einfach das Sterilisationsmittel benutzen?“
„Was?“
„Das Sterilisationsmittel, das sie den Inzuchtlern und Schmelztieglern geben. In ihrem Wasser.“
„Selbst wenn ich die Sterilisationsmittel hätte, von denen du redest, bräuchten wir mehr Zeit…“ Alina verzog angewidert das Gesicht. „Sie sterilisieren die Kinder in deiner Schule?“
„Nur die Inzuchtler und Schmelztiegler. Sie trinken von einer anderen Wasserquelle. Sie sind nutzlos im Fortpflanzungsprogramm.“
Alina starrte ihre Tochter mit offenem Mund fassungslos an.
„Was? Stimmt doch. So spart man sich eine Abtreibung“, ergänzte Natalia nüchtern.
„Aber ich dachte—“, begann Alina. „Ich dachte, du hältst nichts von der Propaganda der Jugendbrigade.“
„Es geht hier nicht nur um die JB. Die Lehrer stecken da auch mit drin. Sie nennen es Die Neue Richtung. Die Inzuchtler und Schmelztiegler wissen es einfach nicht besser—“
„Hör auf! Ist dir eigentlich klar, was du da sagst?“
In Natalias braunen Augen konnte Leonard Qualen erkennen, die niemand unter dreißig Jahren erleiden sollte. Das junge Mädchen hatte in ihrem kurzen Leben schon sehr viel mehr durchmachen müssen, als Leonard in seinen paarundfünfzig Jahren. Er musste schlucken, als sich ein Brennen langsam seine Speiseröhre hocharbeitete.
Natalias Kopf sank nach vorne und sie murmelte in Richtung Boden: „Ich wollte damit nicht sagen, dass sie dumm sind. Ich meinte, dass sie nicht wissen, dass sie sterilisiert werden. Sie haben einen anderen Lehrplan. Sie wissen gar nichts von der Neuen Richtung.“
„Was lernen sie denn dann?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Mathe, Englisch, Politik. Aber sie haben mit Sicherheit keinen Eugenik–Unterricht.“
„Und euch wird beigebracht, dass ihr genetisch überlegen seid, während eure Klassenkameraden sterilisiert werden?“ Alinas Stimme zitterte.
Natalia hob ruckartig den Kopf. „ ,Ihr seid überlegen. Es ist eure Pflicht. Die Inzuchtler und Schmelztiegler können nichts für ihre Herkunft, aber ihr hingegen könnt dafür sorgen, dass der Menschheit eine bessere Zukunft bevorsteht. Nur ein Alleingänger würde seine Verbindung zur Gemeinschaft leugnen.‘ So einen Blödsinn müssen wir uns den ganzen Tag über anhören.“
„Ich kann mir gut vorstellen, dass da manche ziemlich drauf anspringen“, sagte Leonard und dachte dabei an Garrett.
Alina hakte weiter nach. „Und die Jugendbrigade macht das Konzept von Familie schlecht?“
„Nicht nur die Jugendbrigade. Das wird allen Klassen beigebracht. Auch den Inzuchtlern und Schmelztieglern.“
„Wie lange wird euch schon dieser ‚Inzuchtler und Schmelztiegler‘–Kram eingetrichtert?“, fragte Leonard zögernd.
„Seit der zweiten Klasse.“
Alina runzelte die Stirn. „Schon vor dem Nationalen Notstand?“
„Seitdem sie anfingen, den Schulen Nummern zu geben.“
„Im Klassenzimmer?“ Alina fuhr sich unruhig mit der Hand durchs Haar. „Erwachsene Lehrer, die das Konzept von Familie schlechtreden?“
„Das hab ich doch eben gesagt. Ja, die Lehrer. ‚Keine Ehe. Sie destabilisiert die Gesellschaft.‘ Die Kids denken mittlerweile, es wäre völlig normal, dass Babys direkt in Kinderbetreuungseinrichtungen untergebracht werden. Und uns L–Pluslern predigen sie: ,Multiple Partner reduzieren die Bindung und maximieren die Zuchtmöglichkeiten.‘ “ Näselnd fügte sie hinzu: „ ,Schlauere, gesündere und hübschere Kinder werden es der Menschheit ermöglichen, zur nächsten Ebene aufzusteigen.‘ “
„Und alle spielen da einfach mit, als wenn es total normal wäre?“
Natalia verdrehte die Augen. „Nur noch ein paar Jahre und all das wird normal sein. Ihr seid diejenigen, die nicht normal sind“, fauchte sie ihn an. Dann wurde ihre Stimme etwas sanfter. „Ich weiß nicht, was die Leute in Wirklichkeit denken, Mom. Niemand wird sich
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