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Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meira Pentermann
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sichergehen, dass Dickens auch wirklich um zwölf Uhr Mittagspause hatte. Außerdem musste er sich eine glaubwürdige Ausrede einfallen lassen, um an seinem Schreibtisch zu bleiben, während seine Kollegen die köstliche ABV–Auswahl an Sandwiches genossen.
    Er kam an Sandy Littles Arbeitsplatz vorbei und nickte ihr beiläufig zu. Alles andere als beiläufig jedoch fixierten ihn die blauen Augen der jungen Frau, sodass er auf der Stelle stehen blieb. Sie starrten sich gegenseitig an, keiner der beiden sagte ein Wort.
    Sandy.
    Weder durch einen Fehler der Natur noch durch Selbstbestimmung hatte Sandy Little gestern Nachmittag durch das Gesundheitsministerium ihr Baby verloren. Bei dem Streben nach einer gottverlassenen, neuen Weltordnung – mit dem Namen Die Neue Richtung – war es Frauen wie Sandy Little, die demzufolge wahrscheinlich eine L–2 war, nicht erlaubt, Kinder zu bekommen. Die Details von Alinas Geständnis kamen wieder hoch. Vor seinem geistigen Auge sah Leonard Bilder von Sandy, wie sie schrie und sich vergebens wehrte, aber er hatte einfach keine tröstenden Worte für seine Assistentin parat. Die anhaltende Stille bedrückte Leonard zunehmend. Gestern hatte das Mädchen noch in null Komma nichts von Small Talk auf Arbeitsgespräch umgeschaltet. Doch heute, nichts.
    Leonard konnte den Ausdruck in Sandy Littles kalten Augen nicht richtig entziffern. Es war nicht Zorn. Auch nicht Traurigkeit. Es war überhaupt keine wiedererkennbare Emotion. Es schien, als wäre ihre Seele ausgelöscht worden. Ohne Empfindung und völlig lethargisch starrte ihn die junge Frau an.
    Weiß sie etwa, dass Dr. Marsh meine Frau ist?
    Leonard löste sich von ihrem Blick, ging hastig weiter und fühlte sich leicht benommen, als er sich seiner Arbeitskabine näherte.
    Es verging mindestens eine Stunde, bevor Leonard bemerkte, dass er sich die gesamte Zeit über ziellos durch das System geklickt hatte und die einzelnen Zweige des SSP01–Bereichs überflog, ohne dabei irgendwelche Informationen aufzunehmen. Als er auf das Primärzielprofil von Stewart Shinskey, auch bekannt als Alinas Max, starrte, setzte er sich auf.
    Wie kann ich das nur ausdrucken? Als er über die Möglichkeiten nachdachte, kam Leonard zu dem Entschluss, dass er die Informationen auf einer Diskette speichern müsste, wenn er denn eine finden könnte. Ob er diese dann überhaupt aus dem Gebäude schmuggeln konnte, würde sich zeigen. Zumindest war er gestern beim Verlassen der Einrichtung weder durchsucht noch durchleuchtet worden. Leonard wühlte in seinen Schubladen. Ziemlich weit hinten in der obersten Schublade fand er einen USB–Stick. Perfekt.
    Während er den USB–Stick aus der Schublade holte, streifte er mit der Hand über ein sorgsam zusammengefaltetes, gelbes Stück Papier. Neugierig legte er es auf seinen Schreibtisch und strich es glatt. Es war eine Notiz in geschwungener Handschrift, unterschrieben von Sandy .
    Oh mein Gott, dachte er. Hab etwa ich die Affäre?

    „Sehr geehrter Mr. Tramer“, begann die Notiz.
    Zu förmlich. Er seufzte erleichtert auf und las weiter.
    „Es war eine Ehre, für Sie gearbeitet zu haben. Ich weiß, dass es viele unter uns gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die böswilligen Pläne dieser Regierung zu durchkreuzen. Ich frage mich oft, ob Sie wohl Teil dieser heimlichen Widerstandsbewegung sind. Dies im Sinne habe ich immer versucht, Ihnen eine treue Mitarbeiterin zu sein. Ich bete, dass meine Bemühungen Ihnen eine Hilfe sein konnten. Manchmal glaube ich fest daran, dass wir unser Ziel erreichen werden. Dieser Glaube hat mir früher oft Kraft gegeben, um durch den einen oder anderen Tag zu kommen. Wie dem auch sei, momentan kann ich darin keinen Trost mehr finden.

    Ich muss Ihnen diese Worte hinterlassen, obwohl ich weiß, dass sie wohl niemand außer Ihnen jemals sehen wird. Ich, Sandy Little, schwöre meine Treue gegenüber denen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die freie Welt wieder herzustellen… und niemandem sonst.“
    „Ich muss Ihnen diese Worte hinterlassen“, murmelte er flüsternd. „Was zum—“
    Leonard sprang von seinem Stuhl auf, lief durch den Arbeitskabinen–Irrgarten und rannte dabei beinahe einen seiner Untergebenen um. Als er an Ms. Littles Arbeitsplatz ankam, rief er: „Sandy!“
    Über der Tastatur zusammengesackt, sah es so aus, als würde Sandy lediglich ein kleines Nickerchen machen.
    „Sandy“, sagte Leonard erneut, völlig außer Atem. Er rüttelte sanft an

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