Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
als einem Jahr.
„Scheiße“, flüsterte Leonard, während er nach dem USB–Stick suchte und anschließend die ausführlichen Informationen darauf speicherte.
Dann ging er rüber in den WLN02–Bereich und suchte nach Alina Marsh–Tramer. Der rote Button mit dem Wort ORTEN erschien unheilvoll auf dem Bildschirm. Leonard wollte gerade auf ihn klicken, als ihn eine raue Stimme von hinten völlig überraschte.
„Mittagspause, Tramer.“
Leonard schaltete schnell seinen Monitor aus und drehte sich herum, um sich dem Eindringling zu stellen. Die altbackene Pausentante . „Ich bleibe an meinem Schreibtisch“, sagte er kühl.
„Tut mir leid, aber das ist nicht erlaubt.“
Leonard sprang von seinem Stuhl auf, blieb nur einige Zentimeter vor dem Gesicht der Frau stehen und keifte: „Nicht erlaubt? Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Mir einfach zu sagen, ich darf nicht an meinem Schreibtisch essen?“
Die Frau ging erschrocken einen Schritt zurück. Dann sah sie ihn böse an und wiederholte: „Es ist nicht erlaubt. Lassen Sie uns gehen.“
Leonard redete sich völlig in Rage und kreischte wie ein Tier: „Ich will verdammt sein, wenn ich mir von Ihnen sagen lasse, wann und wo ich zu Mittag essen darf.“
Sie grinste. „Nun ja, dann sind sie eben verdammt.“
„Sie können mich mal.“
Die Frau sah ihn weiterhin finster an und weigerte sich, nachzugeben.
„Meine Assistentin hat heute Morgen Selbstmord begangen. Selbstmord! Ich habe ihren toten Körper zusammengesackt in ihrem Stuhl gefunden und ich werde mit Sicherheit die nächste halbe Stunde nicht mit geistlosen Menschen verbringen, die matschige Sandwiches in sich hineinstopfen, verdammt noch mal. Ich bleibe hier. An. Meinem. Schreibtisch. Haben wir uns verstanden?“
Verwirrt ging die Frau einen Schritt zurück. Ihr Mund stand weit offen. Offenbar war die meine Assistentin hat Selbstmord begangen –Situation für sie Neuland. In dem Gewerkschaftsleitfaden schien über dieses Szenario auch nichts gestanden zu haben. Statt sich weiterhin mit Leonard auf dünnem Eis zu bewegen, entschied sich die Frau für einen Rückzug, drehte sich abrupt um und verschwand aus Leonards Sichtweite.
Leonard atmete tief ein und setzte sich zurück an seinen Tisch. 12:04 Uhr.
Er schaltete den Monitor wieder ein und drückte auf Alinas ORTEN–Button. Es erschien eine Karte des Gebiets um das Krankenhaus herum. Ein kleiner roter Punkt blinkte in einem Gebäude südlich des Kinderkrankenhauses.
Die Neil–Nelson–Klinik war das neueste und vornehmste Privatkrankenhaus in ganz Colorado gewesen… natürlich war das noch, bevor der Staat die Leitung des Krankenhauses übernommen und es in einen dysfunktionalen Betrieb, wie Alina es beschrieb, umgewandelt hatte.
Leonard klopfte mit dem Finger auf den Schreibtisch und wartete, dass etwas passierte. Er bewegte geistesabwesend die Maus hin und her. Während der unbewegliche Punkt weiter blinkte, bemerkte Leonard etwas, das er beim ersten Besuch auf der Seite des Ortungssystems übersehen hatte. Ganz rechts unten in der Ecke war der Umriss einer fast vollen Batterie zu sehen.
Eine Minute später fing der Punkt langsam an, sich Richtung Norden zu bewegen. Leonards Herz raste. Er war schon fast freudig erregt. Seine geliebte Frau war zu einem blinkenden Punkt auf einer Karte reduziert worden, aber er konnte einfach nicht anders als zu lächeln. Leben. Tod. Alles war möglich. Es hing alles von diesem einen Moment ab… Er beobachtete, wie sich der Punkt seiner Frau langsam nach Norden Richtung Fitzsimmons Drive bewegte.
Wie versprochen, blieb der Punkt in einer Ecke im nordwestlichen Bereich der Siebzehnten und Fitzsimmons stehen, dort liefen mehrere Straßen direkt vor dem Fitzsimmons Militärkrankenhaus zusammen. Vermutlich war Alina gerade dabei, ihren Ausweis an einem sicheren Ort zu verstecken.
Leonard hielt den Atem an. Der Punkt blieb an der Stelle stehen. Fünfzehn Sekunden. Dreißig. Sechzig. Zwei Minuten. Leonard unterdrückte einen freudigen Aufschrei, als er sich in seinem Stuhl vom Tisch wegdrückte und sich darin dreimal im Kreis drehte. Er sah auf seine Uhr und beobachtete dann wieder den Bildschirm. Fast drei Minuten.
„Ja“, sagte er, ballte seine Faust und zog sie triumphierend an die Brust.
All die Gefühle der letzten zwei Tage – Gedanken, die er unterdrückte, Ängste, denen er sich nicht stellen wollte, leidenschaftliche Regungen, denen er nicht nachgeben durfte – tauchten wieder auf
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