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Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meira Pentermann
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ihrer Schulter. Nichts. Etwas stärker. Immer noch nichts. Er drehte ihren Stuhl herum.
    Der Kopf der wunderhübschen, blonden Frau kippte zur Seite. Ihr Arm fiel von ihrem Schoß, mit ihm eine Tablettendose. Leonard sah, wie die Dose, scheinbar in Zeitlupe, auf den Boden fiel und dabei zwei Mal wieder hochsprang, bevor sie in die Ecke rollte. Obwohl er sich nicht sicher war, wie man das machte, griff Leonard nach ihrem Hals und Handgelenk, um den Puls zu fühlen.
    „Sanitäter“, schrie er mit rauer, unsicherer Stimme.
    Leonard ließ seinen Blick von dem leblosen Gesicht der Frau zu einem Notizzettel auf der Tastatur schweifen.
    IHR GLAUBT, WIR SIND BESCHEUERT!
    Leonard starrte den Notizzettel an, die letzten Worte einer Frau, die keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte.
    Mehrere Sanitäter eilten durch den Arbeitskabinen–Irrgarten. Als sie an Sandys Arbeitsplatz angekommen waren, checkten die Rettungssanitäter hastig die Lebenszeichen. „Kein Puls“, sagte einer der Männer, während der andere versuchte, Leonard aus der Nische zu drängen. Einer der Sanitäter fing mit den Wiederbelebungsmaßnahmen an. Schließlich gab Leonard auf und taumelte zurück zu seinem Arbeitsplatz.
    Im weiteren Verlauf des Vormittags schossen Leonard immer wieder die gleichen Bilder durch den Kopf. Jedes Mal, wenn er versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, sah er Sandys Kopf, wie er leblos zur Seite kippte. Er wünschte, er hätte Alina anrufen können, aber selbst wenn das sicher gewesen wäre, was es nicht war, was hätte es gebracht? Sandy würde dadurch nicht wieder zurückkommen. Es würde Alina beunruhigen und sie wahrscheinlich sogar von dem wichtigen Mittagspausenexperiment ablenken. Nein. Die Idee war schwachsinnig. Fürs Erste musste er den Schmerz über Sandys sinnlosen Tod alleine ertragen.
    Die Stimmung seiner Kollegen schien ebenso einer emotionalen Achterbahn zu gleichen. Die erste Stunde elektrisierte Panik und Bestürzung die Luft. Dann, als die Mitarbeiter aufhörten zu reden und an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten, legte sich langsam eine düstere Atmosphäre über die Stasi–Crew. Es war ungewöhnlich ruhig und obwohl Finger lautstark auf Tastaturen einhämmerten, überwog die unheimliche Stille.
    Nachdem sich Leonard vergewissert hatte, dass auch Dickens Mittagspause um zwölf Uhr war, brachte er zehn Minuten damit zu, Sandys gelbe Notiz methodisch in winzig kleine, nicht wiederherstellbare Stücke zu zerreißen. Er zerstörte den Brief nur ungern, denn die Worte beruhigten ihn gewissermaßen. Der Frühere–Leonard war demnach vielleicht doch kein konformistisches Arschloch. Sandy muss irgendetwas mitbekommen haben. Leonard erlaubte sich schließlich, in diesem Gedanken Trost zu finden.
    Als er zum neunzehnten Mal auf seine Uhr sah, war Leonard erfreut, die Zahlen 11:43 zu sehen. Nur noch siebzehn Minuten bis zur Mittagspause. In ungefähr zehn Minuten würden sich seine Kollegen in freudiger Erwartung der Pause unruhig in ihren Arbeitskabinen hin und her bewegen. Während die Uhr langsam weiter auf die Zwölf zuschritt, entspannte sich die düstere Atmosphäre etwas. Die Leute freuten sich darauf, von dieser bedrückenden Plattform wegzukommen und sich auf die weniger trostlosen Gänge zu begeben.
    Leonard beschloss, einfach an seinem Arbeitsplatz zu bleiben und, während die anderen der Reihe nach hinausgingen, so zu tun, als würde er nur noch schnell zusammenräumen. McGinnis war ohnehin schon eingeschnappt, daher würde er wohl nicht bei ihm vorbeischauen und sehen, wo er bleibt. Um fünf vor zwölf machten sich die Stasi–Projekt–Mitarbeiter wie erwartet auf den Weg zu den Aufzügen. Leonard blieb an seinem Platz, räumte Papiere und Arbeitsmaterialien – seinen Tacker, Tesafilmhalter und verschieden große Haftnotizblöcke – hin und her. Die Plattform war um 11:59 Uhr schon beinahe menschenleer. Leonard hackte sich schnell in Dickens Computer. Er prüfte erneut Max’ WLN–Akte und entdeckte, dass sie sehr viel ausführlicher war als die Zusammenfassung im Primärziel –Bericht, zu der er Zugang hatte. Sie enthielt seitenlange Anmerkungen – sehr genaue Angaben über getätigte Einkäufe und Besorgungen; Angaben darüber, wie viele Stunden innerhalb und außerhalb des Hauses verbracht wurden; intime Details, die Leonard, aus Angst, er würde Alinas Namen irgendwo entdecken, nicht lesen wollte. Max wurde Tag und Nacht überwacht. Die Anmerkungen umfassten einen Zeitraum von etwas mehr

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