Neuromancer-Trilogie
sagte der erste Engel.
»Two-a-Day wird nicht gerade begeistert sein. Was meinste, warum er dermaßen ausgerastet und abgehauen ist?«
Es ging ihm total auf die Nerven, weil er schlafen wollte. Er schlief zwar sowieso, aber irgendwie rieselten Marshas Steckerträume durch seinen Kopf, so dass er durch lauter Fragmente aus Bedeutende Menschen taumelte. Die Serie lief bereits länger, als er auf der Welt war, und zwar ununterbrochen. Die Geschichte war ein vielköpfiger Erzählbandwurm, der sich alle paar Monate zurückdrehte, um sich selbst zu verschlingen, und dann neue Köpfe hervorbrachte, die wieder nach Spannung und Action gierten. Er sah, wie sie sich in ihrer Gesamtheit dahinwand, so wie Marsha sie nie gesehen hatte: als eine gestreckte Spirale von Sense/Net-DNS, billiges, sprödes Ektoplasma, an dessen Fäden unzählige hungrige Träumer hingen. Marsha erlebte die Serie aus der Perspektive von Michele
Morgan Magnum, der weiblichen Hauptfigur und Erbchefin der Magnum AG. Die heutige Episode schweifte jedoch immer wieder auf merkwürdige Weise von Micheles höchst komplizierten romantischen Verwicklungen ab, über die Bobby sich ohnehin noch nie auf dem Laufenden gehalten hatte, und wechselte sprunghaft zu detaillierten architektursoziologischen Betrachtungen von Soleri-Sozialarcologien. Einige der Details waren sogar Bobby suspekt; beispielsweise wollte er nicht glauben, dass es ganze Etagen gab, die ausschließlich als Verkaufsfläche für eisblaue Saion-Sitzgarnituren mit Diamantspangen an den Beinen dienten, oder dass andere Etagen in ihren ständig verdunkelten Räumen nur hungernde Babies beherbergten. Von Letzterem, so erinnerte er sich, war Marsha felsenfest überzeugt gewesen – Marsha, die die Projects mit abergläubischem Entsetzen betrachtete, als wären sie eine drohend aufragende, vertikale Hölle, in die sie eines Tages eventuell auffahren müsste. Andere Abschnitte des Steckertraums erinnerten ihn an den Bildungskanal, den Sense/ Net für jedes Simstim-Abonnement gratis einspeiste; da gab es aufwendig animierte Schaubilder von den inneren Strukturen der Projects und mit einem drögen Kommentar versehene Reportagen über die Lebensweise verschiedener Arten von Bewohnern. Sofern es ihm gelang, sich auf diese zu konzentrieren, wirkten sie noch weniger überzeugend als die Abstecher zu eisblauem Velours und wilden Babies, die still durchs Dunkel krabbelten. Er sah zu, wie eine fidele junge Mutter in der Kochnische eines tadellos sauberen Einzimmer-Apartments mit einem riesigen Wassermesser eine Pizza zerteilte. Eine ganze Wand öffnete sich zu einem schmalen Balkon und einem Rechteck mit comicblauem Himmel. Die Frau war schwarz, aber keine Schwarze, schien es Bobby, der in ihr eine sehr, sehr dunkle und jungmütterliche Version einer der Sexpuppen aus dem Pornogerät in seinem Zimmer sah. Und
sie hatte offenbar genau den gleichen kleinen, comic-perfekten Busen. (Um ihn vollends durcheinanderzubringen, sagte an dieser Stelle eine sehr laute und sehr Net-untypische Stimme: »He, so was nenn ich ein unmissverständliches Lebenszeichen, Jackie. Da brauch ich keine Prognose mehr, um zu sehen, dass es aufwärts geht.«) Und wieder zurück in die Glitzerwelt von Michele Morgan Magnum, die verzweifelt zu verhindern suchte, dass die Magnum AG von dem finsteren, in Shikoku ansässigen Nakamura-Industrieclan geschluckt wurde, dessen Repräsentant in diesem Fall (Komplikation des Plots) Micheles aktueller Lover Nummer eins war: der reiche (aber von einem Milliarden-Engpass gebeutelte) russische Jungpolitiker Wassili Suslow, der von seiner Kleidung und seinem Äußeren her eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Gothicks im Leon’s hatte.
Gerade als die Episode einen Höhepunkt zu erreichen schien – ein altertümlicher, mit Brennstoffzellen betriebener BMW war von ferngesteuerten deutschen Miniaturhelikoptern auf der Straße am Fuß der Covina Concourse Courts unter Beschuss genommen worden, Michele Morgan Magnum hieb mit ihrer Pistole, einer vernickelten Nambu, auf ihren verräterischen Privatsekretär ein, und Suslow, mit dem sich Bobby zusehends identifizierte, traf lässig Vorkehrungen für seine Flucht aus der Stadt mit einem tollen weiblichen Bodyguard, einer Japanerin, die Bobby jedoch stark an ein anderes Traumgirl aus seiner Holoporno-Maschine erinnerte -, stieß jemand einen gellenden Schrei aus.
So einen Schrei hatte Bobby noch nie gehört, aber die Stimme kam ihm entsetzlich bekannt vor.
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