Neuromancer-Trilogie
Fingerkuppen identifizierte. »Ich bin’s, Andrea«, sagte sie in das winzige Mikrofon. Es klickte und klackte, als die Freundin die Tür entriegelte.
Andrea stand tropfnass in ihrem alten Frotteebademantel da. Sie musterte Marlys neue Erscheinung und lächelte dann. »Hast du den Job bekommen oder eine Bank ausgeraubt?«
Marly ging hinein und küßte die Freundin auf die feuchte Wange. »Mehr oder weniger beides«, sagte sie und lachte.
»Kaffee«, sagte Andrea. »Mach uns Kaffee. Grandes crèmes. Ich muss mir die Haare ausspülen. Toll, deine Frisur!« Sie ging ins Bad, und Marly hörte Wasser auf Porzellan spritzen.
»Ich hab ein Geschenk mitgebracht«, sagte Marly, aber Andrea konnte sie nicht hören. Sie ging in die Küche, füllte den Kessel, machte mit dem altmodischen Anzünder den Herd an und suchte die vollgestellten Borde nach Kaffee ab.
»Ja«, sagte Andrea, »ich seh’s.« Sie betrachtete das Hologramm des Kastens, den Marly zum ersten Mal in Vireks Konstrukt des Gaudi-Parks gesehen hatte. »Liegt voll auf deiner Linie.« Sie drückte auf einen Knopf, und das Trugbild des Braun erlosch. Der Himmel draußen vor dem einzigen Fenster des Zimmers war von ein paar Zirrusfetzen getüpfelt. »Mir ist das zu düster, zu ernst. Wie die Sachen, die du in deiner Galerie ausgestellt hast. Aber das heißt nur, dass Herr Virek eine gute Wahl getroffen hat. Du wirst dieses Rätsel für ihn lösen. Und an deiner Stelle würde ich mir dabei ruhig Zeit lassen – bei dem Gehalt.« Andrea trug das Geschenk von Marly, ein teures, großzügig verarbeitetes, hübsches Herrenfrackhemd aus grauem flämischem Flanell. Sie stand auf so was, und ihre Freude war nicht zu übersehen. Es betonte ihre blonden Haare und hatte beinahe den gleichen Ton wie ihre Augen.
»Ich finde ihn schrecklich, diesen Virek …« Marly zögerte.
»Kann ich mir denken«, meinte Andrea und nippte wieder an ihrer Kaffeetasse. »Glaubst du, jemand, der so reich ist, kann ein normaler, netter Mensch sein?«
»Ich hatte zwischendurch das starke Gefühl, dass er gar kein Mensch ist.«
»Ist er auch nicht, Marly. Du hast mit einer Projektion gesprochen, einer Trickaufnahme.«
»Trotzdem …« Marly machte eine hilflose Geste und ärgerte sich im nächsten Moment über sich selbst.
»Trotzdem ist er steinreich und bezahlt dich reichlich für einen Job, für den du wie geschaffen bist.« Andrea lächelte und zog eine schön geformte, kohlschwarze Manschette zurecht. »Du hast aber auch keine große Wahl, nicht wahr?«
»Ich weiß. Vielleicht ist es das, was mich beunruhigt.«
»Also«, sagte Andrea, »ich wollte es zwar noch ein bisschen hinausschieben, aber ich habe dir was zu sagen, was dich vielleicht auch beunruhigt. Falls ›beunruhigen‹ das richtige Wort ist.«
»So?«
»Eigentlich wollte ich’s dir überhaupt nicht sagen, aber ich wette, irgendwann kommt er doch an dich ran. Er riecht Geld, nehme ich an.«
Marly stellte ihre leere Tasse behutsam auf den vollgepackten kleinen Rattantisch.
»In der Beziehung ist er ziemlich gewieft«, sagte Andrea.
»Wann?«
»Gestern. Es ging ungefähr eine Stunde nach deinem Termin bei Virek los, glaube ich. Er hat mich im Büro angerufen und beim Concierge hier eine Nachricht hinterlassen. Wenn ich die Sperre abschalte« – Andrea deutete zum Telefon – »würde er bestimmt innerhalb der nächsten halben Stunde anrufen.«
Marly musste an die Augen des Concierges denken, an das Klackern der Fahrradkette.
»Er will mit dir reden, sagt er. Nur reden. Willst du mit ihm reden, Marly?«
»Nein«, sagte Marly mit einer hohen, albernen Kleinmädchenstimme. Dann: »Hat er eine Nummer hinterlassen?«
Andrea seufzte und schüttelte langsam den Kopf. »Ja, natürlich.«
9
In den Projects
Die Dunkelheit war voller blutroter Wabenmuster. Alles war warm. Und weich, größtenteils weich.
»Das sieht ja übel aus«, sagte einer der Engel. Die weibliche Stimme war weit entfernt, aber voll und wohlklingend und sehr klar.
»Wir hätten ihn uns schon im Leon’s holen sollen«, sagte der andere Engel. »Das wird denen da oben nicht gefallen.«
»Er muss was in der großen Tasche da gehabt haben, siehste? Sie haben sie aufgeschlitzt, um dranzukommen.«
»Ist nicht das Einzige, was sie aufgeschlitzt haben, Schwester. O Gott. Sieh dir das an.«
Das Muster schwang hin und her und verschwamm, als sein Kopf bewegt wurde; eine kühle Hand an seiner Wange.
»Pass auf, dass du nichts ans Hemd kriegst«,
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