Neuromancer-Trilogie
dich’nen Moment lang verloren. Nicht lange, höchstens’ne Minute …« Im Spiegel oben nahm seine Hand eine flache Spule aus transparentem blauem Plastik von dem blutigen Tuch neben Bobbys Brustkorb. Behutsam zog er mit Daumen und Zeigefinger ein braunes, mit Perlen besetztes Stück Kunststoff heraus, um dessen Ränder feine Lichtreflexe spielten, die zu zittern und sich zu verlagern schienen. »Klammer«, sagte er und betätigte mit der anderen Hand einen Schneidemechanismus in der versiegelten blauen Spule. Das perlenschnurartige Ding schwang hin und her und begann zu zucken. »Gut, das Zeug«, sagte er und hob es in Bobbys Blickfeld. »Neu. Damit arbeiten sie jetzt in Chiba.« Es war braun und kopflos; jede Perle war ein Körpersegment, jedes Segment mit hellen, glänzenden Beinen versehen. Mit den flinken Handbewegungen eines Zauberers legte er den Tausendfüßler auf die offene Wunde und kniff behutsam in das letzte Segment, das Bobbys Gesicht am nächsten war. Als es sich ablöste, zog es einen glänzenden schwarzen Faden mit sich, der dem Ding als Nervensystem gedient hatte, wodurch sich die Beinchen nacheinander wie der Reißverschluss einer neuen Lederjacke verhakten und die Wunde schlossen.
»Na also«, sagte der Schwarze, während er den Rest des braunen Sirups mit einem feuchten weißen Bausch abtupfte, »war doch gar nicht so schlimm, oder?«
Sein Eintritt in Two-a-Days Apartment vollzog sich ganz anders, als er es sich so oft vorgestellt hatte. Zunächst einmal hätte er sich nie träumen lassen, in einem Rollstuhl hineingeschoben zu werden, den jemand auf der Entbindungsstation des St. Mary’s abgestaubt hatte – der Name und eine Seriennummer waren fein säuberlich per Laser in das matte Chrom der linken Armstütze graviert. Die Frau, die ihn schob, hätte allerdings durchaus in seine Phantasien gepasst; sie hieß Jackie und war eins der beiden Mädchen aus den Projects, die er im Leon’s gesehen hatte, und einer seiner beiden Engel, wie ihm mittlerweile klargeworden war. Der Rollstuhl rollte lautlos über den geschmacklosen grauen Teppichboden der kleinen Diele des Apartments, aber das Goldgehänge an Jackies Filzhut klimperte munter, während sie ihn schob.
Und er hätte sich nie träumen lassen, dass Two-a-Days Bleibe so riesig sein würde – und voller Bäume.
Pye, der Arzt, der Wert auf die Feststellung gelegt hatte, dass er kein Arzt war, sondern nur »gelegentlich aushalf«, hatte sich in seinem Behelfs-OP auf einen kaputten Barhocker gesetzt, die blutverschmierten grünen Handschuhe abgestreift, sich eine Mentholzigarette angesteckt und Bobby den ernsthaften Rat gegeben, sich etwa eine Woche lang gründlich zu schonen. Minuten später hatten ihn Jackie und Rhea, der andere Engel, in einen zerknitterten schwarzen Pyjama wie aus einem billigen Ninja-Film gestopft, in den Rollstuhl gesetzt und sich mit ihm auf den Weg zur zentralen Fahrstuhlanlage im Kern der Arcologie gemacht.
Dank dreier weiterer Derms aus Pyes Arzneischrank, wovon eins satte zweitausend Mikro eines Endorphin-Analogons enthielt, war Bobby hellwach und hatte keinerlei Schmerzen.
»Wo sind meine Sachen?«, protestierte er, als sie ihn in einen Korridor hinausschoben, der durch die in Jahrzehnten
nachgerüsteten Kabelstränge und Rohrleitungen bedrohlich eng geworden war. »Wo sind meine Kleider und mein Deck und alles?«
»Deine Kleider, Schätzchen, oder was davon übrig ist, stecken in einer Plastiktüte, die in Pyes Müllschlucker wandert. Pye musste sie dir aufm Tisch vom Leib schneiden, und es waren sowieso nur noch blutige Fetzen. Wenn dein Deck hinten in der Jackentasche war, dann würd ich sagen, haben’s die Kerle kassiert, die dich erledigt haben. Hätten dich dabei um ein Haar kaltgemacht. Und mir haste mein Sally-Stanley-Hemd ruiniert, du Hammel.« Engel Rhea war nicht gerade freundlich.
»Oh«, sagte Bobby, als sie um eine Ecke bogen. »Verstehe. Sagt mal, habt ihr zufällig’nen Schraubenzieher bei meinen Sachen gefunden? Oder’nen Kreditchip?«
»’nen Chip? Nee, Baby. Aber wenn du den Schraubenzieher mit den zweihundertzehn Neuen im Griff meinst – so viel hat mein neues Hemd gekostet …«
Two-a-Day machte nicht den Eindruck, als wäre er sonderlich erfreut, Bobby zu sehen. Tatsächlich schien er ihn überhaupt nicht zu sehen. Er schaute glatt durch ihn hindurch zu Jackie und Rhea und bleckte die Zähne zu einem Lächeln, das blankliegende Nerven und Schlafmangel verriet. Sie schoben
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