Neuromancer-Trilogie
Unterscheidungsfähigkeit verlorengegangen sei. Sie seien Künstler auf ihrem Gebiet, sagte Andrea, und auf die Umgestaltung der Realität bedacht, und ihr Neues Jerusalem sei in der Tat ein schöner Ort ohne überzogene Konten, verstimmte Vermieter und die Notwendigkeit,
jemanden zu finden, der die Rechnung fürs Abendessen bezahlte.
»Ist mir nicht aufgefallen, dass du mich zu erreichen versucht hast, als Gnass mit der Polizei kam«, sagte sie in der Hoffnung, ihn damit wenigstens ein bisschen aus der Fassung zu bringen, aber das jungenhafte Gesicht unter dem sauberen braunen Haarschopf, den er aus Gewohnheit mit den Fingern zurückkämmte, blieb gelassen wie eh und je.
»Tut mir leid«, sagte er und drückte seine Gauloise aus. Da sie den Duft des dunklen französischen Tabaks mittlerweile mit seiner Person identifizierte, hatte praktisch ganz Paris nach ihm geduftet und sie an ihn erinnert. »Ich war mir sicher, dass er nichts von der … der Beschaffenheit des Werks merken würde. Versteh doch: Sobald ich mir eingestanden hatte, wie dringend wir Geld brauchten, wusste ich, dass ich etwas unternehmen musste. Mir war klar, dass du dazu viel zu idealistisch warst. Die Galerie wäre sowieso eingegangen. Wenn alles wie geplant gelaufen wäre mit Gnass, hätten wir sie noch, und du wärst glücklich. Glücklich«, wiederholte er und zog eine weitere Zigarette aus der Packung.
Sie konnte ihn nur anschauen und staunen; dass sie ihm glauben wollte, erfüllte sie mit Ekel.
»Du weißt«, sagte er und fischte ein Streichholz aus der gelbroten Schachtel, »dass ich schon früher Ärger mit der Polizei hatte. Als Student. Politischen natürlich.« Er zündete das Streichholz an, warf die Schachtel auf den Tisch und steckte sich die Zigarette an.
»Politischen«, sagte sie und hätte plötzlich am liebsten gelacht. »Ich wusste gar nicht, dass es eine Partei gibt für Leute wie dich. Kann mir nicht vorstellen, wie die heißen würde.«
»Marly«, sagte er und senkte die Stimme, wie er es immer tat, wenn er viel Gefühl zeigen wollte, »du weißt, du musst
wissen, dass ich es für dich getan habe. Für uns, wenn du so willst. Aber du weißt oder spürst doch bestimmt, dass ich dir nie absichtlich wehtun oder dich in Gefahr bringen würde.«
Auf dem überfüllten Tischchen war kein Platz für ihre Tasche, die sie daher auf dem Schoß hielt; jetzt merkte sie, dass sich ihre Fingernägel tief ins dicke, weiche Leder gegraben hatten. »Mir nie wehtun …« Es war ihre Stimme, eine verlorene, erstaunte Kinderstimme; und plötzlich war sie frei, frei von Verlangen, frei von Sehnsucht, frei von Angst. Was sie für das hübsche Gesicht ihr gegenüber empfand, war einfach bloß Abscheu, und sie konnte ihn nur anstarren, diesen Fremden, neben dem sie ein Jahr lang in einem Kämmerchen hinter der winzigen Galerie in der Rue Mauconseil geschlafen hatte. Der Kellner stellte das Glas Vichy vor ihr ab.
Alain deutete ihr Schweigen anscheinend als erste Stufe der Zustimmung, die totale Leere ihres Gesichtsausdrucks als Offenheit. »Was du nicht verstehst« – eine Lieblingseinleitung von ihm, wie sie sich entsann – »ist, dass Typen wie Gnass im gewissem Sinn dazu da sind, die Kunst zu fördern. Uns zu fördern, Marly.« Er lächelte, als würde er über sich selber lachen, ein keckes Verschwörergrinsen, das sie schaudern ließ. »Allerdings hätte ich dem Mann doch wohl so viel Verstand zutrauen müssen, dass er einen eigenen Cornell-Experten zuziehen würde, obwohl mein Cornell-Experte der weitaus gebildetere war, das kannst du mir glauben.«
Wie kam sie nur weg? Steh auf, sagte sie sich. Dreh dich um. Geh ganz ruhig zum Ausgang und durch die Tür. Hinaus in den dezent funkelnden Napoleonkomplex, wo polierter Marmor die Rue du Champ Fleuri überdeckt, eine Straße aus dem vierzehnten Jahrhundert, die angeblich in erster Linie der Prostitution vorbehalten war. Was immer, egal, aber geh, verschwinde, jetzt sofort, nichts wie raus, weg von ihm, blind hinein
ins Paris der Touristen, das sie bei ihrem ersten Besuch kennengelernt hatte.
»Aber jetzt«, sagte er, »siehst du selber, dass sich alles zum Guten gewendet hat. So ist das häufig, nicht wahr?« Wieder das Lächeln, aber diesmal war es lausbübisch, ein bisschen wehmütig und schrecklicherweise irgendwie noch intimer. »Wir haben die Galerie verloren, aber du hast eine Stelle gefunden, Marly. Du hast einen Job, einen interessanten Job, und ich habe die Connections, die du
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