Neuromancer-Trilogie
brauchen wirst, Marly. Ich kenne die Leute, die du treffen musst, um deinen Künstler zu finden.«
»Meinen Künstler?« Sie überspielte ihre jähe Verwirrung mit einem Schluck Vichy.
Er öffnete den verkratzten Aktenkoffer und holte etwas Flaches heraus, ein simples Reflektionshologramm. Sie nahm es, froh darüber, eine Beschäftigung für ihre Hände zu haben. Wie sie sah, war es ein Schnappschuss des Kastens aus Vireks Barcelona-Konstrukt. Jemand hielt den Kasten in die Kamera. Männerhände, aber nicht Alains Hände. An einer steckte ein Siegelring aus dunklem Metall. Der Hintergrund war verschwommen. Nur der Kasten und die Hände.
»Alain«, sagte sie, »woher hast du das?« Sie blickte auf und schaute in braune Augen, aus denen ein schreckliches, kindliches Triumphgefühl leuchtete.
»Das zu erfahren wird jemanden eine ganze Stange Geld kosten.« Er drückte seine Zigarette aus und stand auf. »Bin gleich wieder da.« Er ging zu den Toiletten hinüber. Als er hinter Spiegeln und schwarzen Stahlträgern verschwand, ließ sie das Hologramm fallen, griff über den Tisch und klappte den Deckel des Aktenkoffers auf. Nichts, nur ein blaues Gummiband und ein paar Tabakkrümel.
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen? Noch ein Vichy vielleicht?« Der Kellner stand neben ihr.
Sie blickte zu ihm auf. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Das schmale, dunkle Gesicht …
»Er trägt einen Sender«, sagte der Kellner. »Und er ist bewaffnet. Ich war der Hotelpage in Brüssel. Gib ihm, was er verlangt. Denk daran, dass dir das Geld nichts bedeutet.« Er nahm ihr Glas und stellte es behutsam auf sein Tablett. »Und ihn wird es höchstwahrscheinlich vernichten.«
Als Alain zurückkam, lächelte er. »So, Darling«, sagte er und griff nach seinen Zigaretten, »und nun zum Geschäft.«
Marly erwiderte sein Lächeln und nickte.
11
Vor Ort
Er gönnte sich schließlich drei Stunden Schlaf in dem fensterlosen Bunker, in dem das Vorausteam den Befehlsstand eingerichtet hatte. Den Rest der Mannschaft vor Ort hatte er kennengelernt. Ramirez war schmächtig, nervös und dauerbesoffen von seinen Fähigkeiten als Konsolenjockey. Doch sie brauchten ihn; er sollte zusammen mit Jaylene Slide auf der Bohrinsel den Cyberspace rings um den Gittersektor mit den von dickem Eis geschützten Maas-Biolabs-Bänken überwachen. Falls Maas sie in letzter Sekunde bemerkte, konnte er vielleicht noch eine Warnung absetzen. Darüber hinaus hatte er die Aufgabe, die medizinischen Daten aus der Ambulanz zur Bohrinsel zu übermitteln, was nicht ganz einfach war, wenn Maas nichts davon mitkriegen sollte. Die Leitung nach draußen führte zu einer Telefonzelle mitten im Nirgendwo. Jenseits der Zelle waren er und Jaylene in der Matrix auf sich selbst angewiesen – wenn sie Mist bauten, konnte Maas sie zurückverfolgen und orten. Und dann war da Nathan, der Wartungstechniker, der vor allem die Ausrüstung im Bunker überwachte. Falls irgendeine Komponente den Geist aufgab,
bestand zumindest die Chance, dass er die Störung beheben konnte. Nathan gehörte zu jener Spezies, aus der Oakey und tausend andere hervorgegangen waren, mit denen Turner im Laufe der Jahre zusammengearbeitet hatte: einzelgängerische Techniker, die jederzeit gern eine Gefahrenzulage einsteckten und sich als absolut verschwiegen erwiesen hatten. Die anderen – Compton, Teddy, Costa und Davis – waren lediglich teure Muskelpakete, Mietlinge, Typen, wie man sie für so einen Job anheuerte. Ihretwegen hatte er Sutcliffe besonders ausführlich über die Rückzugspläne befragt. Sutcliffe hatte erklärt, woher die Hubschrauber einfliegen würden, in welcher Reihenfolge der Abtransport vonstatten gehen sollte und wann und wo sie ihr Geld bekämen.
Dann hatte Turner sie alle gebeten, den Bunker zu verlassen, und Webber Anweisung gegeben, ihn in drei Stunden zu wecken.
Der Raum hatte entweder als Pumpstation oder als eine Art Elektrikzentrale gedient. Die hohlen Plastikstummel, die aus den Wänden ragten, mochten Leitungs- oder Abwasserrohre gewesen sein; allerdings deutete nichts in dem Raum darauf hin, dass sie jemals irgendworan angeschlossen gewesen waren. Die Decke, eine einzige große Platte aus gegossenem Beton, war so niedrig, dass er nicht stehen konnte. Der trockene, staubige Geruch war nicht unbedingt unangenehm. Das Team hatte den Raum ausgefegt, bevor es die Tische und die Geräte hereingebracht hatte; trotzdem lagen noch ein paar vergilbte Zeitungsschnipsel auf dem Boden, die
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