Neuromancer-Trilogie
nachmittäglichen Gefühl treu zu bleiben.
Aber sie gehörte dazu, dachte sie mit einem Lächeln. In ihr erwachte etwas aus einem langen, starren Schlaf. In dem Moment, als sie die Augen endlich nicht mehr vor Alains Gemeinheit und ihrem eigenen verzweifelten Bedürfnis, ihn weiterhin zu lieben, verschlossen hatte, war es wieder ins Licht gekommen. Aber dieses Bedürfnis ließ allmählich nach, noch während sie dort saß. Mit seinen schäbigen Lügen hatte er irgendwie die Ketten ihrer Depression zerbrochen. Das hatte nichts mit Logik zu tun, denn in irgendeinem Winkel ihres Bewusstseins hatte sie schon lange vor der Sache mit Gnass gewusst, was Alain überhaupt so tat, und dennoch hatte das ihrer Liebe keinen Abbruch getan. Angesichts ihres neuen Gefühls verzichtete sie jedoch gern auf Logik. Es reichte, dass sie heil und gesund an diesem Tisch im Blanc saß und sich die verzwickte Maschinerie ringsum vorstellte, die Virek in Bewegung gesetzt hatte, wie sie nun wusste.
Was für eine Ironie, dachte sie, als sie den jungen Kellner aus dem Napoleonkomplex auf die Terrasse kommen sah. Er
trug noch immer die dunkle Hose, in der er bedient hatte, aber die Schürze war einer blauen Windjacke gewichen. Dunkle Haare fielen ihm in einer weichen Welle in die Stirn. Lächelnd und selbstsicher kam er auf sie zu; er wusste, sie würde nicht weglaufen.
In diesem Moment wollte etwas in ihr unbedingt weglaufen, aber auch sie wusste, dass sie es nicht tun würde. Was für eine Ironie, sagte sie sich, während ich in der Erkenntnis schwelge, dass ich kein Spezialschwamm für Kummer bin, sondern auch nur ein fehlbares Geschöpf in diesem steinernen Stadtlabyrinth, geht mir zugleich auf, dass ich im Brennpunkt einer gigantischen Maschinerie stehe, die von einem obskuren Wunsch angetrieben wird.
»Ich heiße Paco«, sagte er und zog sich den weißlackierten, schmiedeeisernen Stuhl ihr gegenüber heraus.
»Du warst das Kind, der Junge im Park …«
»Ja, lang ist’s her.« Er setzte sich. »Der Señor hat das Bild aus meiner Kindheit konserviert.«
»Ich habe über deinen Señor nachgedacht.« Sie sah nicht Paco an, sondern die fahrenden Autos, kühlte ihre Augen am Fluss des Verkehrs, an den Farben von Polykarbonat und lackiertem Stahl. »Ein Mann wie Virek ist außerstande, sich seines Reichtums zu entledigen. Sein Geld hat ein Eigenleben. Vielleicht auch einen eigenen Willen. Etwas Derartiges hat er bei unserer Begegnung angedeutet.«
»Du bist eine Philosophin.«
»Ich bin ein Werkzeug, Paco. Ich bin die jüngste Spitze einer uralten Maschine in den Händen eines uralten Mannes, der etwas durchdringen möchte und es bisher nicht geschafft hat. Dein Arbeitgeber lässt seine Hände über tausend Werkzeuge wandern und wählt aus irgendeinem Grund mich aus …«
»Du bist auch eine Dichterin!«
Sie lachte und wandte den Blick vom Verkehr ab. Er grinste; tiefe, senkrechte Lachfalten lagen wie Klammern um seinen Mund. »Auf dem Weg hierher habe ich mir eine Struktur, eine Maschine vorgestellt, so groß, dass ich sie nicht sehen kann. Eine Maschine, die mich umgibt und jeden meiner Schritte vorausahnt.«
»Und eine Egozentrikerin obendrein?«
»Wirklich?«
»Vielleicht auch nicht. Natürlich wirst du beobachtet. Wir passen auf, und das ist gut so. Deinen Freund aus der Brasserie, den beschatten wir ebenfalls. Leider konnten wir nicht rausfinden, woher er das Hologramm hatte, das er dir gezeigt hat. Höchstwahrscheinlich hatte er es schon, als er anfing, deine Freundin anzurufen. Jemand hat sich an ihn rangemacht, verstehst du? Jemand hat ihn auf dich angesetzt. Findest du das nicht außerordentlich interessant? Reizt das nicht die Philosophin in dir?«
»Doch, schon. Ich habe den Rat befolgt, den du mir in der Brasserie gegeben hast, und seinen Preis akzeptiert.«
»Dann wird er ihn verdoppeln.« Paco lächelte.
»Was für mich keine Rolle spielt, wie du sagst. Er war einverstanden, sich morgen wieder bei mir zu melden. Ich nehme an, du kannst die Übergabe des Geldes organisieren. Er will es in bar.«
»In bar.« Paco verdrehte die Augen. »Wie riskant! Aber meinetwegen, das lässt sich einrichten. Und ich kenne auch die Einzelheiten. Wir haben das Gespräch mitgehört. Was nicht schwer war, weil er es netterweise selber per Knopfmikrofon übertragen hat. Wir hätten liebend gern erfahren, wer da am Empfänger gesessen hat, aber offenbar weiß er das selber nicht.«
»Es war ganz und gar untypisch für ihn, sich zu
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