Neuromancer-Trilogie
Pfiff aus und hielt eine Rolle mit orangefarbenem Markierungsband hoch. Es wurde Zeit, Mitchells Landestreifen abzustecken. Sie mussten schnell arbeiten, bevor die Sonne zu hoch stand, aber es würde trotzdem heiß werden.
»So«, sagte Webber. »Er kommt also durch die Luft.« Sie spuckte braunen Saft auf einen gelb gewordenen Kaktus. In ihrer Backe steckte Kopenhagener Priem.
»Genau.« Turner saß neben ihr auf einer ockerbraunen Schieferplatte. Sie schauten zu, wie Lynch und Nathan den Streifen säuberten, den er und Sutcliffe mit dem orangenen Band abgesteckt hatten. Das Band markierte ein Rechteck von vier mal zwanzig Metern. Lynch schleppte ein Stück von einem rostigen I-Träger zu dem Band und hievte es darüber hinweg. Etwas huschte durchs Gestrüpp davon, als der Träger auf den Beton klirrte.
»Die können das Band sehn, wenn sie wollen«, sagte Webber und wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab. »Die lesen sogar die Schlagzeilen in deinem Morgenfax, wenn sie wollen …«
»Ich weiß«, sagte Turner. »Aber wenn sie bis jetzt noch nicht gemerkt haben, dass wir hier sind, dann werden sie’s wohl kaum noch spitzkriegen. Und vom Highway aus sieht man’s nicht.« Er rückte die schwarze Nylonkappe zurecht, die Ramirez ihm gegeben hatte, und zog den langen Schirm so tief herunter, dass er die Sonnenbrille berührte. »Abgesehen davon schaffen wir nur die schweren Sachen weg, die ein Bein abreißen könnten. Vom Orbit aus wird das nicht großartig auffallen.«
»Nein«, stimmte Webber zu. Ihr faltiges Gesicht hinter der Sonnenbrille blieb ausdruckslos. Von seinem Platz aus konnte er ihren Schweiß riechen. Scharf und animalisch.
»Was machst du eigentlich, Webber, wenn du nicht gerade das hier machst?« Er schaute sie an.
»Wahrscheinlich einiges mehr als du«, sagte sie. »Einmal züchte ich Hunde.« Sie zog ein Messer aus dem Stiefelschaft und zog die Klinge geduldig an der Sohle ab, wobei sie es jedesmal geschickt wendete, wie ein mexikanischer Barbier, der sein Rasiermesser schärft. »Und ich angle. Forellen.«
»Hast du Leute daheim in New Mexico?«
»Wahrscheinlich mehr als du«, sagte sie tonlos. »Ich schätze, Typen wie du oder Sutcliffe, ihr seid überhaupt nirgends zu
Hause. Du lebst hier, hab ich Recht, Turner? Vor Ort, heute, an dem Tag, an dem dein Knabe aufkreuzt, stimmt’s?« Sie prüfte die Schneide mit dem Daumenballen und steckte das Messer in die Scheide zurück.
»Aber du hast jemand? Einen Mann, zu dem du nach Hause kommen kannst?«
»Eine Frau, wenn du’s genau wissen willst«, sagte sie. »Verstehst du was von Hundezucht?«
»Nein.«
»Dachte ich mir.« Sie musterte ihn. »Wir haben auch ein Kind. Ein eigenes. Sie hat’s ausgetragen.«
»DNS-Spleiß?«
Sie nickte.
»Teurer Spaß«, meinte er.
»Du sagst es. Ich wäre nicht hier, wenn wir das nicht abstottern müssten. Aber sie ist wunderschön.«
»Deine Frau?«
»Unsere Kleine.«
12
Café Blanc
Als sie vom Louvre wegging, glaubte sie eine durchgegliederte Struktur zu erahnen, die sich veränderte, um sich auf ihren Weg durch die Stadt einzustellen. Der Kellner war vermutlich nur ein Teil des Ganzen, ein Glied, ein winziger Fühler oder Taster. Das Ganze war bestimmt größer, viel größer. Wie hatte sie nur glauben können, dass es möglich wäre, im unnatürlichen Kraftfeld von Vireks Reichtum zu leben und sich zu bewegen, ohne dass sich alles dabei verzerrte? Virek hatte sie aus ihrem Elend herausgeholt und durch den monströsen, unsichtbaren Fleischwolf seines Geldes gedreht, und sie war eine andere geworden. Natürlich, dachte sie, natürlich: Er umgibt
mich ständig, wachsam und unsichtbar, der gewaltige, raffinierte Überwachungsapparat des Herrn Virek.
Schließlich fand sie sich auf dem Bürgersteig vor der Terrasse des Blanc wieder. Das Café erschien ihr ebenso gut wie jedes andere. Noch vor einem Monat hätte sie es gemieden; zu viele Abende hatte sie dort mit Alain verbracht. Nun, da sie das Gefühl hatte, ihre Freiheit zurückbekommen zu haben, beschloss sie, die Wiederentdeckung ihres eigenen Paris mit der Suche nach einen Tisch im Blanc zu beginnen. Sie nahm an einer seitlichen Abschirmung Platz, bestellte beim Kellner einen Cognac und betrachtete fröstelnd den vorbeifließenden Verkehr, den endlosen Strom aus Stahl und Glas, während ringsum an anderen Tischen Fremde aßen und lächelten, tranken und stritten, bittere Abschiedsworte sagten oder leise schworen, einem
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