Neuromancer-Trilogie
Ozean verglüht; Ermittlungsbeamte der Boston-Atlanta-Metropolenachse waren hinzugezogen worden, um den Tatort eines brutalen und offenbar sinnlosen Bombenanschlags in einem tristen Vorort von New Jersey zu untersuchen; unter der Regie der Miliz wurde der südliche Quadrant von Neu-Bonn evakuiert, nachdem Bauarbeiter zwei scharfe und vermutlich mit biologischen Waffen bestückte Raketen aus dem Krieg gefunden hatten; und offizielle Stellen in Arizona dementierten den mexikanischen Vorwurf, nahe der Grenze zu Sonora sei ein kleiner Nuklearsprengsatz gezündet worden … Dann wiederholten sich die Meldungen, und die Simulation des Shuttles erlitt von neuem ihren Feuertod. Kopfschüttelnd drückte sie auf den Knopf. Es war Mittag.
Der Sommer war da; über Paris strahlte blauer Himmel. Marly sog lächelnd den Geruch von leckerem Brot und dunklem Tabak ein. Das Gefühl, beobachtet zu werden, hatte sich gelegt, als sie von der Métro zu der Adresse ging, die Paco ihr genannt hatte. Faubourg St. Honoré. Die Adresse kam ihr irgendwie bekannt vor. Eine Galerie, mutmaßte sie.
Ja. Roberts. Der Besitzer ein Amerikaner, der drei weitere Galerien in New York betrieb. Teuer, aber nicht mehr so richtig in. Paco wartete neben einem riesigen Tafelbild, auf dem unter einer dicken, ungleichmäßigen Klarlackschicht Hunderte von kleinen, viereckigen Fotos klebten, wie sie bestimmte, sehr altmodische Automaten in Bus- und Bahnhöfen produzierten. Es schienen ausschließlich Bilder von jungen Mädchen zu sein. Automatisch registrierte Marly den Namen des Künstlers und den Titel des Werks: Lies uns das Buch der Namen der Toten vor.
»Ich nehme an, du verstehst solches Zeug«, sagte der Spanier mürrisch. Er trug einen teuer aussehenden blauen Anzug im Pariser Business-Stil, ein weißes Hemd aus merzerisierter Baumwolle und eine sehr britische Krawatte, wahrscheinlich von Charvet. Jetzt sah er überhaupt nicht mehr wie ein Kellner aus. Eine italienische Tasche aus schwarzem Gummiripp hing ihm über der Schulter.
»Was meinst du?«, fragte sie.
»Die Namen der Toten«, und er machte eine Kopfbewegung zu der Collage. »Du hast doch mit so was gehandelt.«
»Und was verstehst du nicht?«
»Ich habe manchmal das Gefühl, dass diese, diese Kultur von vorn bis hinten ein Schwindel ist. Mein ganzes Leben habe ich Señor in der einen oder anderen Maske gedient, und meine Arbeit war durchaus nicht unbefriedigend oder ohne Höhepunkte. Aber wenn ich mich mit diesem Kunstkram befassen musste, blieb das immer unbefriedigend für mich.
Señor ist der Reichtum in Person. Die Welt ist voller schöner Dinge. Trotzdem widmet er sich …« Er zuckte mit den Achseln.
»Dann weißt du ja immerhin, was dir gefällt.« Sie lächelte ihn an. »Warum hast du diese Galerie als Treffpunkt gewählt?«
»Señors Agent hat hier einen der Kästen gekauft. Hast du die Berichte nicht gelesen, die du in Brüssel von uns bekommen hast?«
»Nein«, sagte sie. »Das könnte meine Intuition nachteilig beeinflussen. Und Herr Virek bezahlt mich für meine Intuition.«
Er zog die Brauen hoch. »Ich werde dich mit Picard bekanntmachen, dem Galeristen. Vielleicht kann er deiner Intuition auf die Sprünge helfen.«
Er führte sie durch den Raum und durch eine Tür. Ein angegrauter, fülliger Franzose in einem ausgebeulten Kordsamtanzug redete in einen Telefonhörer. Auf dem Monitor des Telefons waren Buchstaben- und Zahlenkolonnen zu sehen. Die Tageskurse der New Yorker Börse.
»Ah«, sagte der Mann. »Estevez. Pardon. Einen Moment noch.« Er lächelte entschuldigend und setzte das Telefonat fort. Marly studierte die Kurse. Pollock war wieder gefallen. Das hier war vermutlich der Aspekt der Kunst, den sie selber am wenigsten verstand. Picard, falls der Mann so hieß, telefonierte mit einem New Yorker Broker und orderte den Ankauf einer gewissen Menge »Punkte« vom Werk eines Künstlers. Ein »Punkt« ließ sich auf vielerlei Weise definieren, je nachdem, um welches Medium es ging; es war jedoch so gut wie sicher, dass Picard die Werke, die er kaufte, nie zu Gesicht bekommen würde. Wenn der Künstler einen entsprechenden Status genoss, wurden seine Originale wahrscheinlich in einem Tresor aufbewahrt, wo sie überhaupt niemand sah. Tage oder Jahre später würde Picard zum selben Telefon greifen und den Broker mit dem Verkauf beauftragen.
Marlys Galerie hatte Originale verkauft. Damit war kein großes Geld zu machen, aber es hatte einen sentimentalen Reiz. Und
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