Neuromancer-Trilogie
über einen Mittelsmann getan, was wir für unwahrscheinlich halten. Señor hat natürlich Dutzende von Fachleuten engagiert, um die Unterlagen beider Institute zu durchforsten. Ohne Erfolg.«
»Sag mal, wieso meint Picard, er hätte kürzlich Herrn Virek gesehen? Wie ist das möglich?«
»Señor ist reich. Señor verfügt über viele Mittel und Wege, in Erscheinung zu treten.«
Er führte sie in einen riesigen Schuppen mit viel blitzendem Chrom und funkelnden Spiegeln, Flaschen und Spielautomaten.
Die Spiegel täuschten, was die Tiefe des Raumes betraf; hinten spiegelten sich der Gehsteig, die Füße der Passanten, das Aufblitzen einer Radkappe im Sonnenlicht. Paco nickte einem lethargisch wirkenden Mann hinterm Tresen zu, nahm sie bei der Hand und führte sie durch die dicht an dicht stehenden runden Plastiktische.
»Hier kannst du deinen Anruf von Alain entgegennehmen«, sagte er. »Wir haben es so eingerichtet, dass der Anruf von der Wohnung deiner Freundin weitergeleitet wird.« Er zog einen Stuhl für sie heraus – eine automatische Geste professioneller Höflichkeit, so dass Marly sich fragte, ob er nicht vielleicht wirklich einmal Kellner gewesen war – und stellte seine Tasche auf den Tisch.
»Aber er wird sehen, dass ich nicht bei Andrea bin«, sagte sie. »Wenn ich das Bild abstelle, wird er bestimmt misstrauisch.«
»Er wird es nicht merken. Wir haben ein digitales Bild von deinem Gesicht mit dem entsprechenden Hintergrund generiert. Das speisen wir in sein Telefon ein.« Er nahm ein elegantes, modular aufgebautes Gerät aus der Tasche und stellte es vor Marly auf.
Ein papierdünner Polykarbonatschirm entfaltete sich lautlos aus dem Oberteil des Geräts und versteifte sich rasch. Sie hatte einmal einen schlüpfenden Schmetterling beobachtet und die Verwandlung seiner trocknenden Flügel gesehen. »Wie funktioniert das?«, fragte sie und berührte zaghaft den Schirm. Er war hart wie dünner Stahl.
»Eine neue Polykarbonat-Variante«, erklärte er. »Ein Produkt von Maas …«
Das Telefon summte diskret. Er rückte es noch sorgfältiger vor ihr zurecht, ging um den Tisch herum zur anderen Seite und sagte: »Dein Anruf. Und denk dran, du bist zu Hause!« Er streckte die Hand aus und berührte einen titanbeschichteten Kontakt.
Alains Kopf und Schultern füllten den kleinen Bildschirm. Das Bild war verschwommen und schlecht ausgeleuchtet, als stünde er in einer Telefonzelle. »Guten Tag, meine Liebe«, sagte er.
»Hallo, Alain.«
»Wie geht’s dir, Marly? Ich hoffe, du hast das Geld, über das wir gesprochen haben?« Sie sah, dass er irgendein dunkles Jackett trug, konnte jedoch keine Einzelheiten erkennen. »Deine Mitbewohnerin könnte ein bisschen Nachhilfe in Aufräumen vertragen«, sagte er mit einem Blick über ihre Schultern.
»Du hast doch in deinem ganzen Leben noch kein Zimmer aufgeräumt«, sagte sie.
Er zuckte lächelnd mit den Achseln. »Jeder hat so seine Talente«, meinte er. »Hast du mein Geld, Marly?«
Sie blickte kurz zu Paco, der nickte. »Ja«, sagte sie, »selbstverständlich.«
»Das ist schön, Marly. Großartig. Da gibt’s nur noch ein klitzekleines Problem.« Er lächelte noch immer.
»Und das wäre?«
»Meine Informanten haben ihren Preis verdoppelt. Folglich muss ich meinen jetzt auch verdoppeln.«
Paco nickte. Er lächelte ebenfalls.
»Also gut. Ich muss natürlich erst fragen.« Er widerte sie jetzt an. Sie wollte das Gespräch beenden.
»Und sie werden natürlich zustimmen.«
»Und wo treffen wir uns?«
»Ich ruf dich um fünf wieder an«, sagte er. Sein Bild schrumpfte auf ein blaugrünes Pünktchen zusammen, das gleich darauf ebenfalls erlosch.
»Du siehst müde aus«, bemerkte Paco, als er den Schirm zusammenfaltete und das Telefon wieder in seiner Tasche verstaute. »Du wirkst älter, wenn du mit ihm gesprochen hast.«
»So?« Aus irgendeinem Grund sah sie jetzt das Tafelbild bei Roberts vor sich, all die vielen Gesichter. Lies uns das Buch der Namen der Toten vor. All die Marlys, dachte sie, all die Mädchen, die sie in ihrer langen Jugend gewesen war.
16
Legba
»He, du Sackgesicht!« Rhea stieß ihn ziemlich unsanft in die Rippen. »Beweg deinen Arsch!«
Er fuhr hoch und kämpfte mit der Häkeldecke, mit den halb ausgeformten Gestalten unbekannter Feinde. Mit den Mördern seiner Mutter. Er war in einem Zimmer, das er nicht kannte, einem Zimmer, das überall hätte sein können. Haufenweise Spiegel mit vergoldeten Plastikrahmen. Samtige,
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