Neuromancer-Trilogie
Laborkühlschrank und holte eine kalte Flasche Moskovskaya heraus. »Schluck aus der Pulle?«, fragte er.
»Später vielleicht.«
Rudy seufzte, betrachtete die Flasche und stellte sie wieder in den Kühlschrank. »Also, was willst du? Wenn jemand so was Ausgeflipptes im Schädel hat wie die Kleine, werden irgendwelche Leute bald dahinter her sein. Wenn sie’s nicht schon sind.«
»Sind sie«, sagte Turner. »Ich weiß nicht, ob sie wissen, dass sie hier ist.«
»Noch nicht.« Rudy wischte sich die Hände an seinen dreckigen weißen Shorts ab. »Aber wahrscheinlich bald, wie?«
Turner nickte.
»Und wo willst du hin?«
»Ins Sprawl.«
»Warum?«
»Weil ich dort Geld hab, Kreditlinien auf vier verschiedene Namen, die man nicht mit mir in Verbindung bringen kann. Weil ich viele andere Connections hab, die ich vielleicht brauchen kann. Und weil’s immer ein guter Unterschlupf ist, das Sprawl. Verdammt groß, verstehst du?«
»Okay«, sagte Rudy. »Wann?«
»Hast du solche Angst, dass du uns möglichst schnell wieder loswerden willst?«
»Nein. Das heißt, ich weiß nicht. Ist ja ziemlich interessant, was deine Freundin da im Kopf hat. Ein Freund von mir in Atlanta könnte mir eventuell einen Funktionsanalysator leihen, der eine Hirnkarte im Maßstab eins zu eins erstellt. Mit so was ließe sich vielleicht feststellen, was das für’n Zeug ist … Könnte einiges wert sein.«
»Sicher. Wenn wir wüssten, wo man so was absetzen kann.«
»Bist du denn nicht neugierig? Ich meine, was, zum Teufel, ist sie? Hast du sie aus irgendeinem militärischen Labor rausgeholt?« Rudy machte wieder die weiße Kühlschranktür auf, holte die Flasche Wodka heraus, öffnete sie und nahm einen Schluck.
Turner griff sich die Flasche, setzte sie an und ließ die eiskalte Flüssigkeit durch die Zähne gluckern. Er schluckte und schüttelte sich. »Aus’nem Firmenlabor. Großunternehmen. Ich sollte ihren Vater rausholen, aber der hat stattdessen sie geschickt. Dann hat jemand unsere ganze Basis in die Luft gejagt. Sah aus wie’n kleiner Nuklearsprengkopf. Wir haben’s gerade noch geschafft. Bis hierher.« Er hielt Rudy die Flasche hin. »Bleib nüchtern, Rudy. Wenn du Schiss hast, trinkst du zu viel.«
Rudy starrte ihn an, ohne die Flasche zu beachten. »Arizona«, sagte er. »War in den Nachrichten. Mexiko ist immer noch stocksauer. Aber es war keine Atombombe. Sie haben das ganze Gebiet untersucht. Keine Nuklearexplosion.«
»Was dann?«
»Sie glauben, dass es’ne Rail-Kanone gewesen ist. Dass jemand ein Hochgeschwindigkeitsgeschütz in eine Frachtmaschine gepackt und damit ein verfallenes Einkaufszentrum irgendwo draußen in der Botanik hochgejagt hat. Man weiß, dass ein Luftschiff in der Nähe war, aber bis jetzt haben sie’s noch nicht gefunden. Eine Rail-Kanone kann man so hochfahren, dass sie zu Plasma zerfliegt, wenn sie losgeht. Als Projektil wäre bei solchen Geschwindigkeiten praktisch alles infrage gekommen. Schon mit hundertfünfzig Kilo Eis ließe sich die Nummer abziehen.« Rudy nahm die Flasche, schraubte den Deckel drauf und stellte sie neben sich auf den Tisch. »Das ganze Gelände da in der Gegend gehört Maas, Maas Biolabs, stimmt’s? Sie haben’s in den Nachrichten erwähnt. Die Firma
arbeitet reibungslos mit den diversen Behörden zusammen. Kein Wunder. Damit wüssten wir also, woher du dein Schätzchen hast, würde ich sagen.«
»Klar. Aber ich weiß immer noch nicht, wer das Geschütz eingesetzt hat. Und warum.«
Rudy zuckte mit den Achseln.
»Kommt lieber mal her und seht euch das an«, sagte Sally von der Tür aus.
Eine ganze Weile später saß Turner mit Sally auf der vorderen Veranda. Das Mädchen war mittlerweile in einem Zustand, den Rudys EEG als Schlaf bezeichnete. Rudy war in einer seiner Werkstätten verschwunden, wahrscheinlich mit der Wodkaflasche. Glühwürmchen umschwirrten die Geißblattranken am Maschendrahttor. Wenn er die Augen leicht zusammenkniff, konnte Turner von seinem Platz auf der hölzernen Verandaschaukel aus einen Apfelbaum sehen, der nicht mehr vorhanden war, einen Apfelbaum, der früher ein silbergraues Hanfseil mit einem alten Autoreifen dran getragen hatte. Auch damals waren Glühwürmchen herumgezogen, und Rudys Hacken waren auf einen kahlen Streifen harter Erde geknallt, als er mit strampelnden Beinen Schwung holte und immer höher schaukelte, während Turner auf dem Rücken im Gras lag und die Sterne betrachtete …
»Zungen«, sagte Sally, Rudys
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