Neuromancer-Trilogie
dringend eine Wäsche gebraucht hätten. Sie trug ein schwarzes Sweatshirt, das um einige Nummern zu groß war, und Jeans. Der Mann hatte die linke Hand ausgestreckt und stützte sie.
Bobby starrte sie mit großen Augen an, und dann fiel ihm das Kinn herunter, als ihn die Erinnerung einholte.
Mädchenstimme, Braunhaar, Dunkelaugen, Eis, das sich in ihn hineinfraß, seine klappernden Zähne, ihre Stimme, das große Etwas, das auf ihn zukam …
»Viv la Vyèj«, sagte Jackie neben ihm verzückt und packte ihn fest an der Schulter, »die wundertätige Jungfrau. Sie ist gekommen, Bobby. Danbala hat sie geschickt!«
»Du warst’ne Weile weggetreten, Junge«, sagte der Mann zu Bobby. »Was ist passiert?«
Bobby blinzelte, blickte sich hektisch um und sah Jammers Augen, glasig von den Medikamenten und vom Schmerz.
»Sag’s ihm!«, befahl Jammer.
»Ich bin gar nicht erst bis zu den Yaks gekommen. Jemand hat mich abgefangen, keine Ahnung, wie …«
»Wer?« Der große Mann hatte jetzt den Arm um das Mädchen gelegt.
»Sie hat gesagt, sie heißt Slide. Aus Los Angeles.«
»Jaylene«, sagte der Mann.
Das Telefon auf Jammers Schreibtisch läutete.
»Geh ran«, sagte der Mann.
Bobby drehte sich um, als Jackie hinüberlangte und auf die Antworttaste unter dem viereckigen Bildschirm drückte. Der
Bildschirm wurde hell, flimmerte und zeigte ihnen das Gesicht eines Mannes, breit, sehr blass, mit verhangenen, schläfrigen Augen. Das Haar war fast weiß gebleicht und nach hinten gekämmt. Er hatte den gemeinsten Mund, den Bobby je gesehen hatte.
»Turner«, sagte der Mann, »wir müssen sofort miteinander reden. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Als Erstes solltest du jetzt mal die Leute da aus dem Zimmer schicken …«
29
Kastenmacher
Das knotige Seil schien kein Ende zu nehmen. Hin und wieder kamen sie an eine Biegung oder Gabelung des Tunnels. Dort war das Seil um eine Strebe geschlungen oder mit einem dicken, transparenten Klumpen Epoxidharz fixiert. Die Luft war hier ebenfalls abgestanden, aber kälter. Als sie in einer zylindrischen Kammer, in der sich der Schacht verbreiterte, bevor er sich zu drei Gängen verzweigte, eine Verschnaufpause einlegten, bat Marly Jones um das flache kleine Arbeitslicht, das er an einem grauen Gummiband um die Stirn trug. Sie hielt es in einem Handschuh des roten Anzugs und leuchtete die Wand der Kammer ab. In die Oberfläche waren Muster aus mikroskopisch feinen Linien geätzt.
»Setzen Sie den Helm auf«, riet ihr Jones. »Sie haben ein besseres Licht dran als ich.«
Marly erschauerte. »Nein.« Sie gab ihm die Lampe zurück. »Können Sie mir hier raushelfen, bitte?« Sie tippte sich mit dem Handschuh an die harte Brustplatte des Anzugs. Der verspiegelte, gerundete Helm war mit einem verchromten Karabinerhaken an der Taille des Anzugs befestigt.
»Behalten Sie ihn lieber an«, sagte Jones. »Ist der Einzige in dem Laden hier. Ich hab einen an meinem Schlafplatz, aber
keinen Sauerstoff dafür. Wigs Flaschen passen nicht auf mein Atemgerät, und sein Anzug hat lauter Löcher.« Er zuckte mit den Achseln.
»Nein. Bitte«, sagte sie und zerrte an der Schließe am Bund, wo Rez etwas umgedreht hatte. »Ich halt’s nicht aus in dem Ding.«
Jones zog sich halb übers Seil und tat etwas, was sie nicht sehen konnte. Ein Klicken ertönte. »Arme hoch«, sagte er. Es war eine umständliche Prozedur, aber schließlich war sie frei. Sie trug noch immer die schwarze Jeans und die weiße Seidenbluse, die sie zu jener letzten Begegnung mit Alain angezogen hatte. Mit einem der Karabinerhaken an seinem Bund befestigte Jones den leeren Anzug am Seil und nahm ihr dann die vollgestopfte Tasche ab. »Wollen Sie sie? Mitnehmen, meine ich? Wir können sie auch hierlassen und sie auf dem Rückweg wieder mitnehmen.«
»Nein«, sagte sie, »die nehme ich mit. Geben Sie her.« Sie hakte einen Ellbogen um das Seil und nestelte am Verschluss, bis die Tasche aufging. Die Jacke kam heraus, aber auch ein Stiefel. Es gelang ihr, den Stiefel wieder in die Tasche zu befördern. Dann schlüpfte sie in die Jacke.
»Hübsches Leder«, sagte Jones.
»Bitte, beeilen wir uns.«
»Ist nicht mehr weit«, sagte er und schwenkte den Lichtkegel seiner Arbeitslampe dorthin, wo das Seil in einer der drei Öffnungen verschwand, die zusammen ein gleichseitiges Dreieck bildeten.
»Hier ist es zu Ende«, sagte Jones, »das Seil, meine ich.« Er tippte auf den verchromten Ringbolzen, um den das Seil zu einem
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