Neuromancer-Trilogie
Bewunderung. »Sie müssen total wahnsinnig sein, dass Sie hierbleiben.«
Er lachte. »Wigan ist irrer als’n Sack Flöhe. Ich aber nicht.«
Sie lächelte. »Doch, Sie sind verrückt. Genauso wie ich.«
»Na, dann herzlich willkommen«, sagte er und schaute an ihr vorbei. »Was ist das? Sieht so aus, als ob wir gleich eine von Wigs Predigten zu hören kriegen, und wir können ihn nicht abdrehen, ohne den Strom abzustellen.«
Sie drehte den Kopf und sah farbige Diagonalen über den großen rechteckigen Bildschirm pulsieren, der schief an die Krümmung der Kuppel geklebt war. Der Bildschirm wurde einen Moment lang von einer vorbeifliegenden Schneiderpuppe verdeckt, dann füllte ihn das Gesicht von Josef Virek aus, dessen sanfte blaue Augen hinter runden Brillengläsern glitzerten.
»Hallo, Marly«, sagte er. »Ich kann Sie nicht sehen, aber ich glaube, ich weiß, wo Sie sind.«
»Das ist einer von Wigs Großbildschirmen zum Predigen«, sagte Jones und rieb sich das Gesicht. »Die hat er überall in dem Laden aufgestellt, weil er denkt, eines Tages würden hier Leute sein, zu denen er predigen kann. Der Typ da hat sich bestimmt über Wigs Kommunikationsanlage eingeklinkt. Wer ist das?«
»Virek«, sagte sie.
»Dachte, der wäre schon älter.«
»Das ist ein künstlich erzeugtes Bild«, sagte sie. »Strukturkartographie mit Hilfe von Röntgenabtastung.« Sie starrte das Gesicht an, das ihr durch den Zeitlupenorkan aus Fundsachen, aus dem Krimskrams zahlloser Leben, Werkzeug, Spielsachen und vergoldeten Knöpfen von der Kuppelwölbung entgegenlächelte.
»Sie sollen wissen«, sagte das Bild, »dass Sie Ihren Vertrag erfüllt haben. Mein Psychoprofil von Marly Kruschkowa hat Ihre Reaktion auf meine psychische Gestalt prognostiziert. Weitergefasste Profile haben angedeutet, dass Ihre Anwesenheit in Paris Maas zwingen würde, seinen Trumpf auszuspielen. Bald werde ich genau wissen, Marly, was Sie gefunden haben. Seit vier Jahren weiß ich etwas, was Maas nicht weiß, nämlich, dass Mitchell, den Maas und alle Welt für den Erfinder der neuen Biochip-Verfahren halten, die Grundlagen für seinen Durchbruch von außen zugespielt bekam. Sie selbst, Marly, waren ein Element in einem komplizierten Arrangement von Faktoren, das letztendlich zu einem höchst befriedigenden Resultat geführt hat. Maas hat mir unwissentlich den Hinweis geliefert, wo der geistige Urheber zu finden ist. Und Sie sind zu ihm vorgedrungen, Marly. Paco wird in Kürze zu Ihnen stoßen.«
»Sie haben gesagt, Sie würden mir nicht folgen«, sagte sie. »Ich wusste, dass es eine Lüge war.«
»Und jetzt, Marly, werde ich wohl endlich frei sein. Frei von vierhundert Kilogramm aufmüpfiger Zellen, die in ein Becken
aus chirurgischem Stahl in einem Stockholmer Industriegebiet eingesperrt sind. Endlich frei, um beliebig viele echte Körper zu bewohnen, Marly. Bis in alle Ewigkeit.«
»Scheiße«, sagte Jones, »der ist ja genauso schlimm wie Wig. Was faselt er da?«
»Er redet von seinem Sprung«, sagte sie und musste an ihr Gespräch mit Andrea denken, an den Duft der brutzelnden Garnelen in der engen, winzigen Küche. »Von der nächsten Stufe seiner Evolution.«
»Verstehen Sie das?«
»Nein«, sagte sie, »aber ich weiß, dass es schlimm werden wird, sehr schlimm.« Sie schüttelte den Kopf.
»Bewegen Sie die Bewohner des Kerns dazu, Paco und seine Leute hereinzulassen«, sagte Virek. »Ich habe den Kern eine Stunde vor Ihrem Abflug aus Orly von einem Bauunternehmer in Pakistan gekauft. Ein gutes Geschäft, Marly, ein sehr gutes Geschäft. Paco wird wie immer meine Interessen vertreten.«
Und damit wurde der Bildschirm dunkel. »Na ja«, sagte Jones, drehte sich um einen gefalteten Greifer und nahm sie bei der Hand, »was ist denn so schlimm daran? Der Laden hier gehört jetzt ihm, und er hat gesagt, Sie hätten Ihren Auftrag erfüllt. Ich weiß nicht, wozu der alte Wig gut ist, außer dass er den Stimmen lauscht, aber er legt sowieso keinen sonderlich großen Wert auf diese Welt. Und ich hab nichts dagegen, von hier zu verschwinden.«
»Sie verstehen das nicht«, sagte sie. »Können Sie auch gar nicht. Er hat den Weg zu etwas gefunden, was er seit Jahren gesucht hat. Aber nichts, was er will, kann gut sein. Für niemand … Ich hab ihn gesehen, ich hab’s gespürt …«
Und dann vibrierte der stählerne Arm, an dem sie sich festhielt, und setzte sich in Bewegung, und der ganze Zylinder rotierte unter dem gedämpften Summen von
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