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Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Gibson
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Seemannsknoten gebunden war. Seine Stimme wurde irgendwo weiter vorn zurückgeworfen, bis Marly glaubte, in dem hallenden Echo andere Stimmen wispern zu hören. »Jetzt
brauchen wir ein bisschen Licht.« Er stieß sich durch den Schacht, fing sich an einem vorspringenden, sargähnlichen grauen Metallkasten ab und öffnete ihn.
    Sie beobachtete, wie sich seine Hände im hellen Lichtkegel der Arbeitslampe bewegten; die Finger waren schmal und zart, aber die Nägel waren kurz und stumpf und hatten festgefressene schwarze Schmutzränder. Die Buchstaben »CJ« waren in ordinärem Blau auf den rechten Handrücken tätowiert. Ein selbstgemachtes Tattoo, wie aus dem Knast … Inzwischen hatte er ein dickes Isolierkabel herausgezogen. Er spähte in den Kasten und steckte das Kabel dann in eine kupferne D-Klemme.
    Die Dunkelheit vor ihnen wich gleißendem Licht.
    »Hat mehr Saft, als wir eigentlich brauchen«, sagte er, und in seinem Ton lag etwas vom Stolz eines Eigenheimbesitzers. »Die Solaranlagen arbeiten alle noch, und die sollten schließlich die Mainframes mit Energie versorgen. Also kommen Sie, Lady, jetzt lernen Sie den Künstler kennen, für den Sie die weite Reise auf sich genommen haben.« Er stieß sich ab und glitt wie ein Schwimmer durch die Öffnung ins Licht – in tausend schwebende Dinge hinein. Sie sah, dass die roten Plastiksohlen seiner ausgefransten Schuhe mit weißer Silikonmasse geflickt waren.
    Und dann folgte sie ihm, ungeachtet ihrer Furcht, ihrer Übelkeit, ihres ständigen Schwindels, und sie war da. Und verstand.
    »Mein Gott«, sagte sie.
    »Kaum«, rief Jones ihr zu. »Eher schon Wigs Gott. Schade, dass er im Moment gerade nichts macht. Das wär ein noch tollerer Anblick.«
    Etwas trieb zehn Zentimeter vor ihrem Gesicht vorbei. Ein schmuckvoller Silberlöffel, genau in der Mitte der Länge nach durchgesägt.

    Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als mit einem Mal flimmernd der Bildschirm aufleuchtete. Stunden, Minuten … Sie hatte bereits gelernt, sich in der Kammer einigermaßen zu bewegen, indem sie sich wie Jones von der konkaven Wölbung abstieß. Wie Jones fing sie sich an den gefalteten Gelenkarmen des Dings ab, schwang um sie herum, hielt sich an ihnen fest und betrachtete den Strudel vorbeidriftenden Plunders. Es gab Dutzende solcher Arme, Manipulatoren mit Zangen, Sechskantschlüsseln und Klingen, mit Miniaturkreissäge und Zahnarztbohrer; sie standen wie Borsten von einem metallenen Thorax ab, der wohl einmal zu einem ferngesteuerten Industrieroboter gehört hatte, einem der unbemannten, halbautonomen Geräte, die Marly aus Orbit-Videos ihrer Kindheit kannte. Dieser Thorax war allerdings in den Scheitelpunkt der Kuppel geschweißt und mit ihr verschmolzen. Hunderte von Leitungen und Glasfaserkabeln schlängelten sich über die Wölbung und mündeten in dem Ding. Zwei der Arme, mit zierlichen, rückkopplungsgesteuerten Greifern ausgerüstet, waren ausgestreckt; die gepolsterten Greiferbacken hielten einen halbfertigen Kasten.
    Mit großen Augen betrachtete Marly die unzähligen vorbeischwebenden Dinge.
    Ein vergilbender Kinderhandschuh, der facettierte Kristallglasstöpsel eines Flakons mit längst verdunstetem Parfüm, eine armlose Puppe mit einem Gesicht aus französischem Porzellan, ein dicker schwarzer Füllfederhalter mit Goldeinlage, rechteckige Lochplattenstücke, die rotgrüne Schlange einer zerknitterten Seidenkrawatte … Endlos, ein träger Schwarm kreisender Dinge …
    Jones kam Purzelbäume schlagend durch den lautlosen Wirbelsturm herauf und hielt sich lachend an einem Arm fest, der mit einer Klebepistole bestückt war. »Reizt mich jedes Mal
zum Lachen, wenn ich das sehe. Aber die Kästen machen mich immer traurig.«
    »Ja«, sagte sie, »mich auch. Aber es gibt so eine und so eine Traurigkeit.«
    »Ganz recht.« Er grinste. »Allerdings kann man’s selber nicht in Gang setzen. Muss wohl der Geist sein, der es anstellt. Behauptet zumindest der alte Wig. Er ist immer viel hier draußen gewesen. Ich glaube, hier sind die Stimmen stärker für ihn. Aber in letzter Zeit sprechen sie scheint’s überall zu ihm …«
    Sie sah ihn durch das Dickicht der Manipulatoren an. Er war sehr schmutzig und sehr jung mit seinen großen blauen Augen unter dem Gewirr brauner Locken. Er trug einen fleckigen grauen Overall mit Reißverschluss. Der Kragen war ganz speckig vor Dreck.
    »Sie müssen wahnsinnig sein«, sagte sie, und aus ihrer Stimme klang so etwas wie

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