Neuromancer-Trilogie
Angie.
Angie schloss die Augen und roch vorsichtig daran. Nichts.
»Noch mal.«
Irgendwas Blumiges. Veilchen?
»Noch mal.«
Ihr Kopf füllte sich mit einem ekelerregenden Treibhausgeruch.
»Geruchssinn ist da«, sagte Piper, als der würgende Gestank nachließ.
»Was du nicht sagst.« Sie schlug die Augen auf. Piper reichte ihr ein winziges, rundes Stück weißes Papier. »Solang es kein Fisch ist«, meinte Angie und beleckte die Fingerspitze. Sie tippte sie auf das Papier und führte den Finger zum Mund. Nach einem dieser Tests von Piper hatte sie mal einen Monat lang kein Fischgericht mehr essen können.
»Ist kein Fisch«, erklärte Piper lächelnd. Sie trug das Haar kurz, ein kompakter kleiner Helm, der den Graphitglanz der hinter den Ohren eingesetzten Buchsen betonte. Die heilige Johanna des Siliziums hatte Porphyre sie genannt, und ihre wahre Passion schien ihre Arbeit zu sein. Sie war Angies persönliche Technikerin und galt als der beste Troubleshooter von Net.
Karamel …
»Wer ist sonst noch da, Piper?« Als sie mit dem Usher-Test fertig war, steckte Piper die Schalttafel in eine maßgefertigte Nylonhülle und zog den Reißverschluss zu.
Angie hatte vor einer Stunde einen Helikopter landen hören, dann Gelächter und Schritte auf der Terrasse, während der Traum verebbte. Sie hatte den Versuch aufgegeben, wie üblich eine Bestandsaufnahme ihres Schlafs zu machen – falls man denn von Schlaf sprechen konnte, wenn die Erinnerungen der anderen hereinströmten, sie ausfüllten und in Bereiche sickerten, in die sie nicht vordringen konnte, so dass nur die Nachbilder blieben.
»Raebel«, sagte Piper, »Lomas, Hickman, Ng, Porphyre, der Papst.«
»Robin?«
»Nein.«
»Continuity«, sagte sie beim Duschen.
»Guten Morgen, Angie.«
»Der Freeside-Torus. Wem gehört der?«
»Der Torus wurde von den gegenwärtigen Besitzern, der Julianna Group und Carribbana Orbital, in Mustique II umbenannt.«
»Wem hat er gehört, als Tally dort gedreht hat?«
»Tessier-Ashpool SA.«
»Ich möchte mehr über Tessier-Ashpool wissen.«
»Hier beginnt Antarktika.«
Sie starrte durch den Dampf zu dem runden weißen Lautsprecher hinauf. »Was hast du gerade gesagt?«
» Hier beginnt Antarktika ist eine zweistündige Videostudie von Hans Becker über die Tessier-Ashpool-Familie, Angie.«
»Hast du die?«
»Natürlich. David Pope hat sie sich kürzlich angesehen. Er war ziemlich beeindruckt.«
»Wirklich? Wann war das?«
»Letzten Montag.«
»Dann seh ich sie mir heut Abend an.«
»Gut. Ist das alles?«
»Ja.«
»Bye, Angie.«
David Pope, der Papst. Ihr Regisseur. Porphyre zufolge erzählte Robin überall herum, sie würde Stimmen hören. Hatte er es auch Pope erzählt? Sie berührte ein Keramikfeld; der Duschstrahl wurde heißer. Aus welchem Grund interessierte sich Pope für Tessier-Ashpool? Sie berührte das Feld erneut;
das Wasser wurde abrupt eiskalt, und sie schnappte unter den stechenden Strahlen nach Luft.
Alles war im Umbruch begriffen; die Gestalten aus jener anderen Landschaft würden bald kommen, viel zu bald …
Porphyre hatte sich, als sie ins Wohnzimmer kam, am Fenster aufgebaut, ein Massai-Krieger in schwarzem Seidenkrepp mit wattierten Schultern und schwarzem Ledersarong. Die anderen stimmten ein großes Hallo an, als sie sie sahen, und Porphyre wandte sich grinsend um.
»Hast uns alle überrascht«, sagte Rick Raebel, der auf dem hellen Sofa flackte. Er war für die Effekte und den Schnitt zuständig. »Hilton dachte, du würdest’ne längere Pause brauchen.«
»Sie haben uns von überallher zusammengetrommelt«, erklärte Kelly Hickman. »Ich war in Bremen, und der Papst war oben im Orbit, um richtige Kunst zu machen, stimmt’s, David?« Er sah den Regisseur bestätigungsheischend an.
Pope, der mit gespreizten Beinen verkehrt herum auf einem der Louis-XVI-Stühle saß, die verschränkten Arme auf die zerbrechliche Lehne gestützt, lächelte müde. Das dunkle Haar über dem schmalen Gesicht war ein wirres Knäuel. Wenn Angies Zeitplan es zuließ, machte er Dokumentarfilme für Net/ Knowledge. Kurz nachdem sie bei Net unterschrieben hatte, wirkte sie anonym in einem von Popes minimalistischen Kunstfilmen mit, einem endlosen Spaziergang über Dünen aus schmutzigem, pinkfarbenem Satin unter einem gepunzten Stahlhimmel. Drei Monate später, als es mit ihrer Karriere schon steil aufwärts ging, wurde eine Raubkopie des Bandes zu einem Undergroundklassiker.
Karen Lomas,
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