Neuromancer-Trilogie
jetzt das Video von Continuity sehen.«
Als sich der Wandbildschirm herabsenkte, öffnete sie die Schlafzimmertür, blieb einen Moment lang am Kopfende der Treppe stehen und horchte ins leere Haus. Die Brandung, das Summen des Geschirrspülers, der Wind, der an den Terrassenfenstern rüttelte.
Sie drehte sich wieder zum Bildschirm um und erschauerte beim Anblick des Gesichts, das sie dort in einem körnigen Standbild-Porträt sah, eines Gesichts mit vogelartigen, geschwungenen Brauen über dunklen Augen, hohen, feinen Wangenknochen und einem breiten, entschlossenen Mund. Das Gesicht wuchs beständig, bis nur noch das Dunkle eines Auges zu sehen war; der Bildschirm wurde schwarz, und ein weißer Punkt schwoll an, streckte sich, wurde zur spitz zulaufenden Spindel von Freeside. Dann kam ein deutscher Vorspann.
»Hans Becker«, begann das Haus aus der Filmvorstellung des Net-Archivs zu zitieren, »ist ein österreichischer Videokünstler,
dessen Markenzeichen das obsessive Abfragen streng begrenzter Bereiche visueller Information ist. Er arbeitet mit Mitteln, die von der klassischen Montage bis zu Techniken reichen, die der Industriespionage, der Weltraumbildtechnik und der Kinoarchäologie entlehnt sind. Hier beginnt Antarktika, seine Untersuchung des Bildmaterials über die Tessier-Ashpool-Familie, gilt derzeit als der Höhepunkt seines Schaffens. Der pathologisch medienscheue Industrieclan, der von der völligen Abgeschiedenheit seines orbitalen Domizils aus operierte, stellte eine bemerkenswerte Herausforderung dar.«
Das Weiß der Spindel erfüllte den Bildschirm, als der Vorspann abgerollt war. Dann schob sich ein Bild in die Mitte, der Schnappschuss einer jungen Frau in weiten schwarzen Kleidern vor einem verschwommenen Hintergrund. MARIE-FRANCE TESSIER, MAROKKO.
Das war nicht das Gesicht aus dem ersten Bild, das Gesicht der Erinnerungen, die sie heimsuchten, aber es schien trotzdem darauf hinzudeuten, als läge ein larvenartiges Bild darunter.
Der Soundtrack wob ein atonales Gespinst zu atmosphärischem Rauschen und unverständlichen Stimmen, als das Bild von Marie-France vom strengen Schwarz-Weiß-Porträt eines jungen Mannes mit gestärktem Eckenkragen abgelöst wurde. Es war ein hübsches Gesicht mit feinen Proportionen, aber irgendwie sehr hart, und in den Augen lag unendliche Langeweile, JOHN HARNESS ASHPOOL, OXFORD.
Ja, dachte sie, und ich bin dir oft begegnet. Ich kenne deine Geschichte, obwohl ich nicht daran rühren darf.
Aber eigentlich, glaube ich, kann ich dich auf den Tod nicht ausstehen, nicht wahr, Mr. Ashpool?
13
Steg
Der Steg knarrte und schwankte. Die Trage war zu breit für das Geländer zu beiden Seiten, so dass sie sie in Brusthöhe halten mussten, während sie ihn im Schneckentempo überquerten. Gentry ging voraus, die behandschuhten Hände um die Griffe links und rechts neben den Füßen des Schläfers geklammert. Slick hatte die schwere Seite, das Kopfende mit den Batterien und den ganzen Apparaten. Er spürte Cherry in seinem Rücken; sie schlich hinter ihm her. Er wollte ihr sagen, sie solle umkehren, um den Steg nicht noch mehr zu belasten, brachte es jedoch irgendwie nicht über die Lippen.
Es war ein Fehler gewesen, Gentry die Tüte mit Kid Afrikas Drogen zu geben. Slick wusste nicht, was in dem Derm gewesen war, das Gentry sich draufgeklebt hatte; er wusste auch nicht, was Gentry vorher schon im Blut gehabt hatte. Jedenfalls war Gentry total übergeschnappt, und deshalb schleppten sie sich jetzt über den verdammten Steg, zwanzig Meter über Factorys Betonboden, und Slick war drauf und dran, vor Frust loszuheulen oder loszubrüllen; er wollte irgendwas kaputtschlagen, ganz egal, was, konnte die Trage jedoch nicht loslassen.
Und Gentrys Grinsen im Widerschein des am Fußende der Trage befestigten Biomonitors, während er auf dem Steg einen weiteren Schritt rückwärts machte …
»O Mann«, sagte Cherry mit einer Kleinmädchenstimme, »das ist doch wirklich totale Scheiße.«
Gentry zerrte abrupt und ungeduldig an der Trage, so dass sie Slick beinahe aus den Händen gerutscht wäre.
»Gentry«, sagte Slick, »ich finde, das solltest du dir nochmal überlegen.« Gentry hatte die Handschuhe ausgezogen. Er hielt in jeder Hand ein Überbrückungskabel, und Slick sah die Anschlüsse
zittern. »Ich meine, mit Kid Afrika ist nicht gut Kirschen essen, Gentry. Du hast keine Ahnung, womit du’s zu tun kriegst, wenn du hier rummurkst und dich mit ihm anlegst.« Das
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