Neuromancer-Trilogie
normal aussehenden Magnetschlüssel daran.
Draußen auf der Straße war es kalt. Er ging mit ihr den Block entlang und öffnete die Tür eines kleinen, weißen, dreirädrigen Fahrzeugs. Sie stieg ein. Er setzte sich ans Steuer und streifte die Handschuhe ab. Er startete den Motor; in der verkupferten Spiegelfassade eines Geschäftshochhauses sah sie eine Wolke davonwehen.
»Er wird denken, ich hab sie geklaut«, sagte sie mit einem Blick auf die Jacke.
Dann trumpfte das Wiz ein letztes Mal auf, und eine raue Neuronenkaskade überspülte ihre Synapsen: Cleveland im Regen und ein tolles Gefühl, das sie mal bei einem Spaziergang gehabt hatte.
Silber.
16
Faser im Gewebe
Ich bin das ideale Publikum für dich, Hans – als die Aufzeichnung zum zweiten Mal startete. Könnte es eine aufmerksamere Zuschauerin geben? Du hast sie wirklich gut getroffen, Hans. Ich weiß es, weil ihre Erinnerungen in meine Träume eingehen. Ich sehe, wie nah du herangekommen bist.
Ja, du hast sie alle gut erfasst. Der Aufbruch ins All, der Mauerbau, das Verkriechen. Sie und die Mauern, nicht wahr? Das Labyrinth des Blutes, der Familie. Der Irrgarten inmitten der Leere: Wir sind das Innere, außen ist das andere, hier werden wir für immer leben. Und die Dunkelheit war da, von Anfang an … In den Augen von Marie-France hast du sie immer wieder aufgespürt, hast sie langsam aus dem Schattenreich im Innern des Schädels herausgezoomt. Schon früh ließ sie keine Aufnahmen mehr von sich zu. Du hast mit dem gearbeitet, was du hattest. Du hast ihr Bild korrigiert, es durch Flächen aus Licht und Schatten gedreht, Modelle erzeugt, ihren Schädel in Neonrastern vermessen. Du hast Spezialprogramme verwendet, um sie gemäß den statistischen Vorgaben altern zu lassen, und Animationssysteme, um deine reife Marie-France zum Leben zu erwecken. Du hast ihr Bild in viele, aber nicht unendlich viele Punkte zerlegt und sie verquirlt, hast neue Formen daraus entstehen lassen und diejenigen ausgewählt, die dir etwas zu sagen schienen … Und dann hast du dir die anderen vorgenommen, Ashpool und die Tochter, deren Gesicht deine Arbeit umrahmt: das erste und letzte Bild.
Beim zweiten Durchgang wurde ihr der Werdegang des Clans noch klarer. Nun konnte sie Beckers Splitter in eine zeitliche Abfolge einordnen, die mit der Hochzeit von Tessier und Ashpool begann, einer Verbindung, die seinerzeit vor allem in den
Medien der Finanzwelt Beachtung gefunden hatte. Jeder der beiden erbte ein nicht gerade bescheidenes Imperium; Tessier gelangte in den Besitz des Familienvermögens, das auf neun bahnbrechenden Patenten der angewandten Biochemie beruhte, und Ashpool übernahm die große Maschinenbaufirma, die den Namen seines Vaters trug und ihren Sitz in Melbourne hatte. Für die Journalisten war es eine Fusion durch Eheschließung, obwohl der daraus hervorgehende Firmenverbund von den meisten als unrentabel angesehen wurde: eine Chimära mit zwei völlig unterschiedlichen Köpfen.
Andererseits konnte, wer Augen hatte, sehen, wie auf den Fotos von Ashpool die Langeweile verschwand und entschlossene Zielstrebigkeit an ihre Stelle trat. Die Wirkung war wenig schmeichelhaft, ja geradezu beängstigend: das harte, schöne Gesicht wurde noch härter und zeigte eine gnadenlose Unbeirrbarkeit.
Bereits ein Jahr nach seiner Heirat mit Marie-France Tessier hatte Ashpool 90 Prozent des Aktienkapitals seiner Firma abgestoßen und den Erlös in orbitalen Besitz sowie in Transporteinrichtungen investiert, und die Früchte der ehelichen Verbindung, zwei Kinder, Bruder und Schwester, wurden in der mütterlichen Villa in Biarritz von Leihmüttern ausgetragen.
Die Tessier-Ashpools stiegen in den Archipel im Hochorbit empor und stellten fest, dass die Ekliptik nur spärlich mit Militärstationen und den ersten vollautomatischen Fabriken der Kartelle belegt war. Und hier begannen sie zu bauen. Anfangs hätte ihr gemeinsames Vermögen kaum ausgereicht, um die Auslagen zu decken, die dem Multi Ono-Sendai allein für ein Produktionsmodul seines weltraumgestützten Halbleiterprojekts entstanden, aber Marie-France legte ein gänzlich unerwartetes unternehmerisches Talent an den Tag und richtete einen äußerst profitablen Datenhafen ein, der den Bedürfnissen von weniger seriösen Sektoren des internationalen Bankwesens
gerecht wurde. Daraus ergaben sich wiederum Verbindungen zu den einzelnen Banken und deren Kunden. Ashpool nahm enorme Kredite auf, und die Mauer aus Mondbeton, die
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