Neuromancer-Trilogie
Diebin.«
»Es geht um meinen Arsch, Boss, und das ist alles, was ich habe. Ich würd ihn halt gern heil hier rauskriegen.«
»Du bist sehr ungezogen. Selbstmord wird hier mit gewissem Anstand zelebriert. Genau das tue ich, verstehst du? Aber vielleicht nehme ich dich heute Nacht mit in die Hölle … wie bei den alten Ägyptern.« Er trank wieder. »Nun denn. Komm her!« Er hielt ihr mit zitternder Hand die Flasche entgegen. »Trink!«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ist nicht vergiftet«, sagte er, stellte den Brandy jedoch auf den Tisch zurück. »Setz dich. Setz dich auf den Boden. Wir wollen ein bisschen plaudern.«
»Worüber?« Sie setzte sich. Case spürte, wie die Klingen sich kaum merklich unter den Nägeln regten.
»Über alles, was uns so einfällt. Was mir einfällt. Hier habe ich das Sagen. Der Kern hat mich geweckt. Vor zwanzig Stunden. Es sei etwas im Gange, hieß es, und ich würde gebraucht. Warst du dieses Etwas, Molly? Sicher hätten sie mich nicht gebraucht, um mit dir fertig zu werden. Nein, es muss etwas anderes sein … Ich habe geträumt, weißt du? Dreißig Jahre lang. Du warst noch nicht geboren, als ich mich das letzte Mal zur Ruhe gelegt habe. Sie sagten uns, wir würden in der Kälte nicht träumen. Sie sagten uns auch, wir würden die Kälte nicht spüren. Alles Unsinn, Molly. Lügen. Natürlich habe ich geträumt. Die Kälte ließ das Draußen herein, das war der Grund. Das Draußen. Die ganze Nacht hindurch habe ich dies hier gebaut, damit wir uns davor verstecken konnten. Zuerst war es nur ein Tropfen, ein Körnchen Nacht, das hereinsickerte, angelockt von der Kälte … Doch bald folgten weitere und füllten meinen Kopf, wie der Regen ein leeres Becken füllt. Drachenwurz. Ich weiß es noch. Die Becken waren aus Terrakotta, die Kindermädchen aus Chrom. Wie ihre Glieder bei Sonnenuntergang im Garten schimmerten … Ich bin alt, Molly. Über zweihundert Jahre alt, wenn man die Kälte mitrechnet. Die Kälte.« Plötzlich riss er die Pistole hoch. Der Lauf zitterte. Die Sehnen in Mollys Oberschenkeln waren straff wie Drahtseile.
»Man kann Frostbrand bekommen«, bemerkte sie vorsichtig.
»Da brennt nichts«, sagte er ungeduldig und senkte die Waffe. Seine spärlichen Bewegungen wurden zusehends sklerotisch. Sein Kopf wippte auf und ab. Nur mit Mühe konnte er
es unterdrücken. »Da brennt nichts. Ah, jetzt fällt’s mir wieder ein. Der Kern hat mir gesagt, unsre Intelligenzen spielen verrückt. Die vielen Milliarden, die wir investiert haben. Damals, als Künstliche Intelligenz noch ein ziemlich gewagtes Unterfangen war. Ich habe dem Kern gesagt, ich würde mich darum kümmern. Ein schlechter Zeitpunkt, wirklich – 8Jean ist grade unten in Melbourne, und nur unsre süße 3Jane sieht hier nach dem Rechten. Oder auch ein sehr guter Zeitpunkt. Was meinst du, Molly?« Wieder ging die Pistole hoch. »In der Villa Straylight gehen merkwürdige Dinge vor.«
»Boss«, sagte sie, »kennen Sie Wintermute?«
»Ein Name, ja. Ein Name, der vielleicht Wunder wirkt. Ein Höllenfürst, ganz bestimmt. Zu meiner Zeit, liebe Molly, habe ich viele hohe Herren gekannt. Und nicht wenige Damen. Sogar eine spanische Königin lag einmal in diesem Bett … Aber ich schweife ab.« Er hustete feucht und krampfhaft, und die Pistolenmündung zuckte. Er spuckte auf den Teppich neben seinen bloßen Fuß. »Das geht ja ins Uferlose. In die Kälte. Aber bald ist Schluss damit. Ich ließ eine Jane auftauen, als ich aufgewacht bin. Seltsam, alle paar Jahrzehnte bei der Frau zu liegen, die rechtlich gesehen die eigene Tochter ist.« Sein Blick wanderte an Molly vorbei zum Gestell mit den leeren Monitoren. Er schien zu frösteln. »Die Augen von Marie-France«, sagte er schwach und lächelte. »Wir lassen das Gehirn auf bestimmte eigene Neurotransmitter allergisch reagieren, was zu einer mit besonderer Fügsamkeit verbundenen Form von Autismus führt.« Sein Kopf kippte zur Seite, ging wieder hoch. »Soweit ich weiß, ist das heutzutage mit einem eingepflanzten Mikrochip leichter zu bewerkstelligen.« Die Pistole glitt ihm aus der Hand, plumpste auf den Teppich. »Die Träume wachsen so langsam wie Eis«, sagte er. Sein Gesicht hatte sich bläulich verfärbt. Sein Kopf sank an das wartende Leder zurück, und er begann zu schnarchen.
Sie war sofort auf den Beinen und schnappte sich die Knarre. Mit Ashpools Automatik in der Hand ging sie durchs Zimmer.
Eine riesige Stepp- oder Tagesdecke lag neben dem Bett in
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