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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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von flüssiger Kompakt—heit, als würden die Scherben eines Spiegels beim Fallen sich biegen und
    verschmelzen...
    »Herrgott«, sagte Case verdutzt, als Kuang sich über die horizontlosen
    Weiten des Tessier-Ashpool-Kerns schnellte, einer endlosen, neondurch—
    fluteten Stadtlandschaft von einer Komplexität, die ins Auge stach: brillant, messerscharf.
    »He, Scheiße«, sagte die Konstruktion, »diese Dinger sind das RCA-Gebäude. Kennste das alte RCA-Gebäude?« Das Kuang-Programm tauchte über die glänzenden Spitzen von einem Dutzend identischer Türme hinweg, wovon jeder ein blaues Neonduplikat des Manhattaner Wolkenkratzers war.
    »Schon mal so'ne hohe Auflösung gesehn?« fragte Case.
    »Nee, hab aber auch noch keine AI geknackt.«
    »Weiß das Ding, wohin es geht?«
    »Würd's ihm raten.«
    Sie fielen, verloren in einer regenbogenfarbenen Neonschlucht ständig
    an Höhe.
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    »Dix...«
    Eine Schattenzunge löste sich vom glitzernden Boden drunten, eine
    brodelnde Finsternis, ungeformt, konturenlos...
    »Kriegen Gesellschaft«, sagte die Flatline, als Case sich die Reproduktion seines Decks griff und die Finger automatisch über die Tasten flitzten. Das Kuang schwenkte schwindelerregend, machte dann kehrt, düste rückwärts und zerstörte die Illusion eines physischen Gefährts.
    Das Schattengebilde wuchs, breitete sich aus und verdeckte die Daten—
    stadt. Case steuerte schnurstracks hinauf zur unermeßlichen Kuppel aus
    jadegrünem Eis über ihnen.
    Die Stadt des Kerns war jetzt verschwunden, völlig eingehüllt in die
    Dunkelheit unter ihnen.
    »Was ist'n das?«
    »Ein AI-Verteidigungssystem«, sagte die Konstruktion, »oder ein Teil davon. Wenn das dein Kumpel Wintermute ist, so sieht er nicht besonders freundlich aus.«
    »Übernimm!« sagte Case. »Bist schneller.«
    »Tja, Angriff ist die beste Verteidigung, Junge.«
    Und die Flatline richtete die Nase des Kuangstachels auf das dunkle
    Zentrum unter ihnen aus. Und stieß hinab.
    Ihr Tempo verwischte das Sensorium von Case.
    Ein bitterer Blaugeschmack machte sich in seinem Mund breit.
    Seine Augen wurden schwabbelige Kristalleier, die vibrierten in einer als Regen und Brausen von Zügen bekannten Frequenz und mit einemmal einen Wald haarfeiner Glaszapfen hervorbrachten. Die Zapfen spalteten sich, teilten sich, spalteten sich wieder – Exponentialwucherung unter der Kuppel des Tessier-Ashpool-Eises.
    Sein Gaumen klaffte schmerzlos auf, ließ Würzelchen hindurch, die um
    seine Zunge peitschten, gierig den Blaugeschmack aufsaugten, um den
    Kristallwald seiner Augen zu nähren, den Wald, der gegen die grüne Kuppel drückte, drückte und zurückgedrängt wurde, schwoll und nach unten wuchs, um das ganze Universum von T-A zu durchdringen, nach unten in
    die wartenden, glücklosen Vorstädte der City, die der Verstand der Tessier-Ashpool SA war.
    Und es fiel ihm eine alte Geschichte ein von einem König, der Münzen
    auf ein Schachbrett legte und bei jedem Feld die Summe verdoppelte...
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    Exponential...
    Dunkelheit stürzte von allen Seiten herein, eine Sphäre schriller
    Schwärze, Druck auf die ausgestreckten Kristallnerven des Datenuniver—
    sums, das er beinahe geworden war...
    Und als er, im Herzen dieser Dunkelheit komprimiert, nichts war, kam
    ein Punkt, wo die Dunkelheit nicht mehr sein konnte und etwas zerriß.
    Das Kuang-Programm sauste aus trüben Wolken, Cases Bewußtsein teilte sich wie Quecksilberperlen, die über einen endlosen Strand von der Farbe dunkler Silberwolken schwirrten. Sein Blickfeld war sphärisch, als
    würde sich eine Retina über die Innenfläche einer Kugel spannen, die alle Dinge enthielt, falls alle Dinge zählbar waren.
    Und hier war alles zählbar, jedes einzelne Ding. Er kannte die Zahl der
    Sandkörner des konstruierten Strands (eine Zahl, dargestellt in einem ma—
    thematischen System, das ausschließlich im Verstand namens Neuromancer existierte). Er wußte die Zahl der gelben Essenspakete in den Contai—nern im Bunker (vierhundertsieben). Er wußte die Zahl der Messinghäkchen an der linken Hälfte des offenen Reißverschlusses der salzüberkru—steten Lederjacke, die Linda Lee trug, als sie, einen Treibholzstock in der Hand schwingend, bei Sonnenuntergang über den Strand schlenderte (zweihundertundzwei).
    Er steuerte Kuang über den Strand und flog das Programm in einer weiten Kurve, wobei er durch ihre Augen das schwarze Haifischgebilde als lautlosen, gierigen Spuk vor den tiefen Wolkenbänken sah. Sie

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