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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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dich.«
    Er ließ sich Zeit, als er die Treppe zu Deanes Büro hinaufstieg. Keine
    Eile, sagte er sich, keine Hast. Die schlaffe Dali-Uhr ging nach wie vor
    falsch. Es war Staub auf dem Kandinksy-Tisch und den neoaztekischen Bü-
    cherregalen. Eine Mauer weißer Versandboxen aus Fiberglas erfüllte den
    Raum mit Ingwerduft.
    »Ist die Tür abgeschlossen?« Case wartete auf eine Antwort, aber es
    kam keine. Er ging zur Tür und probierte daran. »Julie?«
    Die grün-beschirmte Messinglampe warf einen Lichtkegel auf Deanes
    Schreibtisch. Case betrachtete das Innenleben einer antiken Schreibmaschine, Kassetten, zerknülltes Endlospapier, klebrige Plastiktüten mit Ing-werproben.
    Es war niemand da.
    Case ging um den breiten Stahlschreibtisch herum und rückte Deanes
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    Stuhl zur Seite. Er fand die Kanone in einem rissigen Lederhalfter, das mit silbernem Klebeband unter dem Tisch befestigt war. Es war ein Altertum, ein 357er Magnum-Trommelrevolver mit abgesägtem Lauf und Abzugsbü-
    gel. Der Griff war mit mehreren Schichten Kreppband verstärkt. Das Band
    war alt, braun und speckig. Er öffnete die Trommel und inspizierte jede
    der sechs Patronen einzeln. Sie waren von Hand zu laden. Das weiche Blei
    gänzte noch.
    Mit dem Revolver in der Rechten ging Case am Schrank vorbei links um
    den Schreibtisch und stellte sich mitten ins vollgestopfte Büro, weg vom
    Lichtkegel.
    »Ich schätze, es pressiert nicht. Ich schätze, es ist deine Show. Aber der ganze Scheiß, weißt du, wird allmählich ziemlich... fad.« Er hob den Revolver mit beiden Händen, zielte mitten auf den Schreibtisch und drückte ab.
    Der Rückstoß hätte ihm beinahe das Handgelenk gebrochen. Das Mündungsfeuer erhellte den Raum wie ein Blitzlicht. Mit dröhnenden Ohren starrte er auf das schartige Loch in der Schreibtischvorderseite. Explosivgeschoß. Azid. Wieder hob er die Waffe.
    »Das wäre nicht nötig gewesen, alter Knabe«, sagte Julie, der aus dem
    Dunkeln kam. Er trug einen gerafften, seidenen Dreiteiler mit Fischgrätmuster, ein gestreiftes Hemd und eine Fliege. Seine Brille blitzte im Licht.
    Case riß die Waffe herum und wandte sich dem rosigen, nicht alternden
    Gesicht von Deane zu.
    »Nicht«, sagte Deane. »Du hast recht. In bezug auf das, was das alles
    soll. Was ich bin. Aber es gilt, eine gewisse innere Logik zu beachten.
    Wenn du die da benutzt, bekommst du 'ne Menge Hirn und Blut zu sehen,
    und es würde mich einige Stunden - in deiner subjektiven Zeit - kosten,
    um einen neuen Sprecher einzusetzen. Es ist nicht einfach, das ganze Arrangement aufrechtzuerhalten. Oh, und es tut mir leid wegen Linda in der Spielhalle. Ich wollte durch sie zu dir sprechen, ich konstruiere das alles aus deinen Erinnerungen und der emotionalen Ladung... Nun, es ist sehr knifflig. Sorry für den Ausrutscher...«
    Case senkte die Waffe. »Das ist die Matrix. Du bist Wintermute.«
    »Ja. Das alles kommt natürlich mittels der Simstim-Einheit zu dir, die an dein Deck gekoppelt ist. Ich bin froh, daß ich dich abfangen konnte, bevor du den Stecker ziehen konntest.« Deane ging um den Schreibtisch herum, rückte seinen Stuhl zurecht und nahm Platz.
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    »Setz dich, alter Knabe! Wir haben viel zu bereden.«
    »Ach wirklich?«
    »Natürlich. Schon seit einiger Zeit. Ich war dazu bereit, als ich dich in Istanbul telefonisch erreichte. Die Zeit wird knapp. In wenigen Tagen wirst du dein Ding drehen, Case.«
    Deane nahm ein Bonbon, wickelte es aus dem karierten Papier, steckte
    es in den Mund. »Setz dich!« sagte er, am Bonbon lutschend.
    Case ließ sich auf dem Drehstuhl vor dem Schreibtisch nieder, ohne den
    Blick von Deane zu wenden. Die Knarre in der Hand ruhte auf seinem
    Oberschenkel.
    »So«, sagte Deane forsch, »zur Tagesordnung. Was, so fragst du dich, ist
    Wintermute, hab ich recht?«
    »Mehr oder weniger.«
    »Eine künstliche Intelligenz, aber das weißt du selber. Dein Fehler, ein an sich ganz logischer, ist, daß du das Wintermute-Mainframe in Bern mit der Entität Wintermute verwechselst.« Deane lutschte schmatzend sein Bonbon. »Du weißt bereits von der anderen AI im Tessier-Ashpool-Verbund, nicht wahr? Rio. Ich, sofern ich ein ›Ich‹ habe - wird ziemlich metaphysisch, wie du siehst -, ich bin derjenige, der alles arrangiert für Armitage. Oder Corto, der übrigens recht unstabil ist. Stabil genug«, sagte Deane, zog eine schmuckvolle Golduhr aus der Westentasche und klappte den Deckel auf, »für die nächsten ein, zwei Tage.«
    »Was du da

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