Neuromancer
sie hatten beide ein Dutzend Bier intus, wurde Marlene von einer Wespe gestochen. »Mach die Viecher tot!« sagte sie. Ihre Augen waren dumpf vor Zorn, glanzlos in der schwülen Hitze des Zimmers. »Verbrenn sie!« Der betrunkene Case durchwühlte den muffigen Schrank nach Rollos Drachen. Rollo war Marlenes verflossener - und, wie
Case damals vermutete, noch gelegentlicher-Freund, ein bulliger Motor—
radfan aus San Francisco mit einem eingefärbten, blonden Blitz im dunk—
122
len Bürstenschnitt. Der Drache war ein Flammenwerfer aus Frisco, dick
und kantig wie eine große Taschenlampe. Case checkte die Batterien,
schüttelte das Ding, um zu sehen, ob genug Benzin im Tank war, und ging
ans offene Fenster. Im Stock fing es zu surren an.
Die Luft im Sprawl war abgestanden, gestaut. Eine Wespe schwirrte aus
dem Nest und kreiste um seinen Kopf. Er drückte den Zünder, zählte bis
drei und löste den Abzug. Das Benzin, auf 7 atü verdichtet, sprühte an der weißglühenden Spule vorbei. Helle Stichflamme, fünf Meter lang. Das an—gekohlte Nest flog davon. Ein Schrei auf der anderen Straßenseite.
»Scheiße!« Die schwankende Marlene hinter ihm.
»Idiot! Hast sie nicht verbrannt. Nur abgerissen. Die kommen gleich wieder hoch und bringen uns um!« Ihre Stimme machte ihn nervös. Er stellte sich vor, wie sie Flammen fing, wie ihr blondiertes Haar giftgrün aufloderte.
In der Gasse näherte er sich mit dem Drachen in der Hand dem ange—
kohlten Nest. Es war aufgebrochen. Angesengte Wespen krümmten und
wanden sich auf dem Asphalt.
Er sah, was die graue Papierhülle verborgen hatte.
Entsetzlich. Die spiralenförmige Kinderstube mit abgestuften Reihen
von Brutzellen, in denen die blinden Kiefer der Ungeborenen zuckten, die
verschiedenen Stadien vom Ei zur Larve, von Fast-Wespe zur Wespe. Sein
geistiges Auge machte Zeitraffer-Aufnahmen davon, entschlüsselte das Gebilde als biologisches Gegenstück eines Maschinengewehrs mit tückischer Perfektion. Befremden. Er drückte den Abzug, wobei er das Vorglühen vergaß, und Benzin spritzte über das schwellende, zuckende Leben zu seinen Füßen.
Als er den Zünder drückte, explodierte das Ding mit einem dumpfen
Schlag. Er versengte sich eine Augenbraue. Fünf Stockwerke über sich hörte er Marlene am geöffneten Fenster lachen.
Er erwachte mit dem Eindruck erlöschenden Lichts, aber im Zimmer
war es dunkel. Nachbilder, Augenflimmern. Draußen dämmerte am Himmel das aufgezeichnete Morgengrauen. Es waren keine Stimmen mehr zu hören, nur das Rauschen des Wassers am Fuße des Intercontinental.
In seinem Traum hatte er, kurz bevor er das Nest mit Benzin tränkte,
das T-A-Logo von Tessier-Ashpool an der Nestseite gesehen, als hätten es
die Wespen selbst dort eingearbeitet.
123
Molly bestand darauf, ihn mit Bräuner einzureihen, weil er mit seiner
Sprawl-Blässe, wie sie sagte, richtiggehend auffalle.
»Herrgott«, sagte er, nackt vor dem Spiegel stehend, »du glaubst, das
wirkt echt?« Molly, die neben ihm kniete/ließ den Rest der Tube seinem
linken Knöchel angedeihen.
»Nee, aber es zeigt, daß dir dein Aussehen nicht egal ist. So. Für den
Fuß haben wir nix mehr.« Sie stand auf und warf die leere Tube in den breiten Weidenkorb.
Nichts in diesem Zimmer wirkte industriell gefertigt oder aus Kunststoff. Teuer, wie Case wußte. Dabei hatte er sich mit diesem Stil nie anfreunden können. Der Temperschaum auf dem riesigen Bett sah durch seine Farbe wie Sand aus. Es gab viel helles Holz und handgewebtes Tuch.
»Was ist'n mit dir?« sagte er. »Färbst du dich auch braun? Siehst nicht gerade so aus, als würdest du den ganzen Tag in der Sonne braten.«
Sie trug schwarze Seide und schwarze Espadrilles.
»Ich bin eine Exotin. Hab dazu noch einen breiten Strohhut. Du, du willst aussehn wie ein billiger Stecher, der mitnimmt, was er kriegt, also ist die vorübergehende Bräune schon okay.«
Case stierte verdrießlich auf seinen blassen Fuß und betrachtete sich
dann im Spiegel. »Herrgott. Was dagegen, wenn ich mir was anziehe?« Er
ging zum Bett und schlüpfte in seine Jeans. »Gut geschlafen? So'n Licht gesehn?«
»Hast geträumt«, sagte sie.
Sie frühstückten auf dem Dach des Hotels, eine Art Wiese, gespickt mit
gestreiften Sonnenschirmen und viel zu vielen Bäumen, wie Case fand. Er
erzählte ihr von seinem Versuch, die AI in Bern zu knacken. Die ganze Fra-ge des Scheiterns schien akademisch geworden zu sein. Falls Armitage sie
Weitere Kostenlose Bücher