Neva
bücke mich und entdecke ein winziges Schlüsselloch. Hastig schiebe ich das Paneel wieder an seinen Platz, und als Dad eine Minute später zurückkommt, räume ich gerade das letzte Buch ins Regal.
Jetzt weiß ich endlich, wie man in den Geheimraum gelangt. Ich hatte befürchtet, dass es vielleicht einen Computercode oder ein Zauberwort geben würde, aber selbst Dads Sicherheitsvorkehrungen sind antiquiert. Jetzt muss ich nur den Schlüssel finden. Ich beobachte Dad ununterbrochen und achte auf jede Kleinigkeit.
Als er eines Abends zusammenpackt, um nach Hause zu fahren, sehe ich ihm genau zu. Die meisten seiner Rituale kenne ich inzwischen. Er richtet die Aktenordner auf seinem Schreibtisch aus und sieht die Reiter mit den Bezeichnungen durch. Ein paar Akten kommen in die oberste rechte Schublade. Normalerweise ist das mein Zeichen, ebenfalls einzupacken, doch heute lasse ich ihn nicht aus den Augen. Nun zieht er den Kittel aus. Er trägt ihn nicht gerne außerhalb des Büros: Man könnte ja versehentlich Toxine mit hineinbringen. Mit Daumen und Zeigefinger nimmt er etwas aus der Kitteltasche, und hätte ich nicht so genau hingeschaut, wäre es mir vielleicht entgangen. Dann steckt er es – was immer es ist – in seine Westentasche. Die Tasche hat die perfekte Größe für einen winzigen Schlüssel, der in ein winziges Schloss passt – das muss er sein. Nur mit äußerster Beherrschung gelingt es mir, nicht von meinem Stuhl aufzuspringen und triumphierend die geballte Faust zu recken. In meinem Kopf setzt ein Sinfonieorchester zum Crescendo an.
Am liebsten würde ich Sanna alles erzählen, meinen kleinen Sieg mit ihr teilen, aber ich beschließe, noch zu warten, bis ich etwas Konkreteres vorweisen kann. Jeder Gedanke an Sanna führt zu Gedanken an Braydon. So sehr ich mich auch abzulenken versuche und mich in meine Arbeit vergrabe, er lauert immer am Rand meines Bewusstseins.
Ich befürchte schon, dass ich niemals die Gelegenheit bekomme, meine Theorie über den Schlüssel und Dads geheimen Raum auf den Prüfstand zu stellen. Aber heute höre ich ihn mit einem Kollegen über eine Krisensitzung sprechen, die für den Nachmittag angesetzt ist. Sein InfoScreen ist noch immer nicht repariert, daher suche ich die Bücher heraus, die er für die Besprechung braucht. Er wirkt hektisch: Ständig wird er angerufen, was ungewöhnlich ist. Etwa zehn Minuten vor dem Meeting stapele ich die Bücher vor ihm auf dem Schreibtisch. Jetzt muss jeder Schritt sitzen: Ich will ihn dazu bringen, das Büro so hastig zu verlassen, dass er abzuschließen vergisst.
»Solltest du nicht langsam mal los?«, frage ich.
Er blickt auf die Messinguhr auf seinem Schreibtisch, die statt Zahlen diese komische Anordnung aus Buchstaben hat, hauptsächlich aus X und I. »Ja, du hast recht.« Er sammelt einige Papiere zusammen und schiebt sie in eine lederne Mappe.
Als er aufsteht, deute ich auf seinen Kittel, und er lässt sich von mir helfen, ihn abzulegen. Bevor er daran denken kann, den Schlüssel in seine Westentasche zu stecken, hänge ich den Mantel an den Haken. »Viel Erfolg bei der Besprechung«, wünsche ich ihm, und beladen mit Büchern und Papieren huscht er hinaus. Ich sehe ihm nach, als er durch den Flur davoneilt. Dann kehre ich in sein Büro zurück und schließe die Tür ab. Ich nehme den winzigen Schlüssel aus dem Laborkittel.
Nun stehe ich vor dem geheimen Mechanismus, aber ich bekomme den Schlüssel einfach nicht ins Schloss. Das Klicken des Metalls, als ich immer wieder ziele und abrutsche, scheint in dem mit Holz ausgekleideten Büro widerzuhallen. Ich wische mir den Schweiß mit dem Ärmel des weißen Kittels von der Stirn, den Dad mir gegeben hat. Es klappt inzwischen ganz gut mit uns, was mein schlechtes Gewissen über das, was ich hier tue, enorm verstärkt.
Der Schlüssel rutscht mir aus den Fingern. Die weißen Handschuhe stören. Ich sollte sie ausziehen, aber ich will keine Fingerabdrücke hinterlassen. Ich muss ruhiger werden. Ich hebe den Schlüssel auf und balle die Hand zur Faust, so dass ich die Umrisse in meiner Haut spüren kann. Dad hat gemeint, dass die Sitzung den ganzen Nachmittag dauert. Niemand wird hereinkommen. Niemand wagt es, Dr. George Adams zu stören. Ich durchquere den Raum, um die Tür zu überprüfen. Abgeschlossen. Trotzdem klemme ich einen Stuhl unter die Türklinke. Ich kann nicht vorsichtig genug sein. Dad wird ausrasten, wenn er bei seiner Rückkehr nicht in sein Büro kann.
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