Neva
Schmerzen.
Mit einer Hand fährt er über die Buchrücken. »Geh einfach nach Hause«, sagt er und senkt den Kopf wie zum Gebet.
Wie konnte er mir nur mein ganzes Leben lang Lügengeschichten auftischen? Nun weiß ich, dass es viel, so viel mehr gibt, das wir nicht kennen. Und trotzdem fühle ich mich, als hätte ich gerade etwas verloren, das ich niemals mehr zurückbekommen kann.
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16 . Kapitel
W ir treffen uns bei deiner Mutter«, flüstere ich ins Telefon. Ich bin zwei Straßen weiter gegangen, bevor ich mich sicher genug fühlte, um eine Telefonzelle zu benutzen. Sogar jetzt drehe ich mich ständig halb um, damit sich mir niemand von hinten nähern kann.
»Was? Neva? Bist du das?« Sannas Worte tönen bruchstückhaft durch das statische Geknister. Sie sagt noch etwas, doch ich verstehe es nicht.
»Treffen wir uns bei deiner Mutter«, wiederhole ich lauter und langsamer, und ich hoffe, dass sie mich jetzt hört.
»Nev, toll! Du darfst wieder raus? Ju-huu! Mann, du hast mir gefehlt. Aber ich kann jetzt gerade nicht, ich muss …«
»Komm einfach.« Plötzlich hört es auf zu knistern. »Nur du. Keine Ausreden. Es ist wichtig.«
Als Sanna eintrifft, lehne ich wie immer mit dem Rücken am Grabstein ihrer Mutter. »Hier.« Ich ziehe den Artikel aus meinem BH . Der Schweiß, das Zusammenfalten und die Reibung haben aus dem Blatt Papier sechzehn zerfaserte Karrees gemacht. Ich reiche sie ihr.
»Was ist das denn?« Sie kniet sich hin und legt die Stücke auf das Grab ihrer Mutter. Ich setze mich neben sie und sortiere die Papierschnipsel, so dass wieder das Blatt zu erkennen ist, das ich aus dem Archiv habe mitgehen lassen. Ich habe ein schlechtes Gewissen wegen der Lügen, wegen des Diebstahls und wegen der Miene meines Vaters. Er hätte mir nicht zu sagen brauchen, dass ich ihn enttäuscht habe. Ich kenne diesen Ausdruck in seinen Augen nur allzu gut. Diesmal schien es ihn jedoch härter getroffen zu haben als sonst – viel härter.
»Ich glaube, es handelt sich um einen alten Zeitungsartikel«, sage ich ruhig.
»Um einen
was?
« Sie berührt das zerknitterte Papier.
»Ich habe ihn aus dem geheimen Archiv meines Vaters geklaut.«
»Aus dem was?« Erstaunt mustert Sanna mich. »Du hast dem Geschichtsguru etwas geklaut?«
Ich nicke.
»Nev, ich dachte, wir wären uns einig gewesen …« Sie rückt näher heran, um besser sehen zu können.
»Lies ihn.« Ich sollte stolz auf mich sein, aber es kommt mir falsch vor. Auch wenn er ein Betrüger ist, bleibt er trotzdem mein Vater. Wir lesen die Wörter zwischen den Rissen. Papier und Buchstaben haben sich fast zersetzt. Die Überschrift ist der einzige Satz, der sich problemlos entziffern lässt:
LAND VERSCHLIESST SICH MENSCHEN UND GEDANKEN
.
Der restliche Text ist verwischt wie durch einen Wasserschaden, das Foto unter dem Titel nur noch ein Schemen aus grauen Punkten.
Der Bericht, soweit wir ihn lesen können, handelt von einem Exodus, von einem Auszug der Massen. Menschen sind hinausgeworfen worden oder freiwillig gegangen, als dieses Land beschlossen hat, die Grenzen zu schließen. Ich ertappe mich dabei, wie ich den Artikel überfliege, um vielleicht etwas über draußen zu erfahren, aber der Autor ist mehr an dem interessiert, was drinnen eingesperrt ist. Ein Wissenschaftler behauptete, dass das Experiment nur wenige Jahre überdauern würde, bis bestimmte Rohstoffe erschöpft wären. Ein Arzt sagte voraus, dass Inzucht und Krankheit das Land letztendlich dazu zwingen würden, sich wieder einzugliedern. Sanna und ich sehen uns an.
Einen Namen kennen wir: Dr. Benjamin L. Smith. In dem Artikel verteidigt er die kostspielige Vorbereitung, den Aufwand und die Arbeitskräfte, die dazu nötig sind, sein Land und die Lebensart zu erhalten. »Unserer Kultur droht die Auslöschung. Wir dürfen weder Kosten noch Mühen scheuen, um zu verhindern, dass wir durch die Globalisierung geschluckt werden.«
»Was ist denn Glo-ball-isierung?«, fragt Sanna.
Ich zucke die Achseln. »Klingt wie eine Krankheit.«
»Meinst du, das ist der Grund, warum wir die Grenzen dichtgemacht haben?«
»Du glaubst, dass da draußen alle an Globalisierung gestorben sind?«
Nun zuckt sie die Achseln.
Die untere Hälfte des Artikels fehlt. Ich fahre mit dem Finger über die ausgefranste Risskante und frage mich, was uns entgeht.
»Was soll das überhaupt mit dem Datum? 15 . Dezember 2051 «, liest Sanna. »Es kann doch keinen Zeitungsbericht aus der Zukunft
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