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Neva

Neva

Titel: Neva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Grant
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Antworten direkt vor meiner Nase befinden – doch ich weiß nicht, was ich fragen soll. Tu irgendwas, fordere ich mich im Stillen auf. Allerdings strömt so viel Adrenalin durch meine Adern, dass mir das Denken schwerfällt.
    Und so ziehe ich irgendeine Schublade auf und gehe die alten grünen Ordner darin durch. Im dämmrigen Licht kann ich nicht richtig lesen. Das Papier in den Akten ist vergilbt und dünn, die Schrift darauf fast verblasst.
    Ich atme schneller. Meine Hände schwitzen in den Handschuhen. Ich hinterlasse einen Fleck auf einem Blatt, als ich es in den Ordner zurückschiebe. Ich muss mich unbedingt beruhigen. Ich ziehe die oberste Schublade vom ersten Aktenschrank heraus und sehe mir die vorderste Akte an. Von ihrem ursprünglichen Inhalt sind nur einzelne Fetzen und Staub übrig geblieben. Das müssen die ältesten Unterlagen sein. Und sofern sie chronologisch geordnet sind, brauche ich die letzte Akte mit den neusten Informationen. Die unteren drei Schubladen sind leer. Im nächsten Fach befinden sich vier Hängeregister. Ich hole die hinterste Mappe heraus und lege sie auf den Tisch. Meine Hände zittern, und der Deckel des Ordners klappert, als ich ihn öffne.
    Die Akte liegt nun offen auf dem Tisch, aber das Klappern dauert an. Die Bürotür. Jemand rüttelt am Türknauf! Oh, mein Gott. Mein Herz setzt aus.
    Ich schlage den Ordner zu. Aber ich kann unmöglich mit leeren Händen verschwinden. Mitnehmen kann ich die Akte allerdings auch nicht; meinem Vater würde es bestimmt auffallen, wenn sie fehlt. Hastig öffne ich den Ordner erneut und nehme das letzte Blatt heraus. Ich falte es mehrmals und stecke es mir in den BH .
    Jetzt klopft jemand.
    Ich packe den Ordner weg und schaue mich um. Alles sieht genauso aus wie eben, als ich eingetreten bin. Zumindest glaube ich das. Ich schlüpfe durch die Tür, schließe sie und drücke noch einmal dagegen, um mich zu vergewissern, dass sie wirklich zu ist.
    »Neva!« Es ist mein Vater, und jetzt brüllt er: »Neva! Bist du da drin?«
    Denk nach!
Wie soll ich erklären, dass die Tür verschlossen ist? Ich ziehe im Vorbeigehen zwei Bücher aus dem Regal. Eins werfe ich aufs Sofa, das zweite auf den Boden, wobei ich versehentlich den Umschlag einreiße. Hastig streife ich den Kittel und die Handschuhe ab und schleudere sie hinter mich. Dann renne ich zu seinem Kittel am Haken und stecke den Schlüssel zurück in die Tasche. Ich ziehe den Stuhl unter dem Türknauf hervor, zerzause mein Haar und kneife mir in die Wangen. Mit halbgeschlossenen Lidern öffne ich die Tür. »Oh, hi, Dad. Entschuldige.«
    Er stößt die Tür auf, und ich schlurfe zur Couch hinüber und lasse mich darauffallen. Dann hebe ich Handschuhe und Kittel vom Boden auf.
    »Warum war die Tür abgeschlossen?«, will er wissen, während er den Raum durchquert.
    »Es tut mir echt leid, Dad, wirklich.« Mit großer Geste schüttele ich die Kissen auf der Couch auf. »Ich war mit meiner Arbeit fertig und wollte in …« Ich werfe einen verstohlenen Blick auf den Schutzumschlag des Buches. »… in
Die Standardisierung des Status quo
hineinlesen.« Ich durchforste mein Gedächtnis nach Überbleibseln aus dem Geschichtsunterricht. »Uniformität entspricht Gleichheit«, fällt mir das berühmte Zitat eines unserer Gründungsväter ein, wahrscheinlich Dr. Benjamin L. Smith.
    »Willst du mich für dumm verkaufen?« Er steht neben dem Zugang zu dem geheimen Archiv.
    »Nein«, gebe ich zurück und täusche ein Gähnen vor. Ich strecke die Arme über den Kopf, lasse sie aber wieder sinken, als sie zu zittern beginnen.
    Er kommt auf mich zu. »Was hast du hier genau getan?«
    »Ich habe gelesen und bin dann so müde geworden, dass ich vorsichtshalber abgeschlossen habe. Ich wollte nicht, dass mich jemand beim Schlafen erwischt.« Ich rutsche bis ans andere Ende der Couch.
    Er nimmt das Buch vom Boden auf und bemerkt den eingerissenen Einband.
    »Oh … das. Das tut mir wirklich leid. Es ist mir aus der Hand gerutscht, als ich eingedöst bin. Wahrscheinlich ist es dabei passiert.« Ich erhebe mich und will es ihm abnehmen, doch er drückt das Buch an seine Brust und streicht über den Umschlag.
    »Du hast mich sehr enttäuscht, Neva.« Seine Worte erzeugen eine trostlose Leere in mir. Er sucht die Lücken in den Bücherregalen und schiebt die Bücher zurück. »Bitte geh.«
    »Aber …« Wieso möchte ich mich entschuldigen? Ich will, dass er versteht. Er verzieht das Gesicht, als habe er

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