Neva
eines wolltet. Ich weiß, dass ihr es versucht habt.«
Trauer überkommt sie, aber sie kämpft die Tränen nieder. »Wir wollten einen Bruder oder eine Schwester für dich. Die Regierung hat deinem Dad damals viel Druck gemacht. Größeren Familien bieten mehr Möglichkeiten. Aber irgendwann haben wir aufgegeben und akzeptiert, dass ein wundervolles Kind genug ist.« Sie berührt mich liebevoll am Kinn und versucht zu lächeln.
»Und warum jetzt?«
»Ich habe Gerüchte gehört, dass die Familien von Patrioten nun eingesetzt werden, um ungewollte Kinder aufzuziehen.«
»Welches Kind ist denn ungewollt? Die Regierung unterstützt Familien und fleht uns doch regelrecht an, uns zu vermehren.« Ich falte den Brief zusammen und gebe ihn ihr zurück. Sie weiß mehr, als sie sagt. »Was hat es damit auf sich? Was ist los?«
»Es ist einfach zu viel.« Sie wedelt mit dem Brief in der Luft herum.
»Ich denke, du willst noch ein Kind.«
»Sieh dich doch mal um. Alles wird immer schlimmer. Kein Kind sollte in einem solchen Land …« Ihre Stimme verliert sich.
»Und warum rufst du nicht das Gesundheitsministerium an und erklärst ihnen, dass du das Baby nicht willst?«
Sie schüttelt den Kopf. »Dein Vater sitzt im Rat. Aber selbst, wenn es nicht so wäre – eine direkte Anfrage kann man nicht einfach zurückweisen.«
»Wie funktioniert denn so etwas? Woher kommt das Baby?«
»Es ist nicht gut, so viel zu fragen.«
Ich dagegen denke, dass wir längst nicht genug fragen.
»Tja, wie es aussieht, kriegst du wohl ein Geschwisterchen«, fügt sie hinzu.
»Ob es uns nun passt oder nicht«, murmele ich. Ich würde ihr gern von dem Archiv erzählen und von meiner Entdeckung. Aber sie sieht so müde aus. Eine weitere Enthüllung kann sie heute nicht gebrauchen.
»Ich muss später weg«, sagt sie und geht zur Tür.
»Kann ich mit dir kommen?« Ich sehne mich danach, mich wieder wie fünf zu fühlen, Moms Hand zu nehmen, mit ihr die Straße entlangzugehen, mich von ihr in ein Geschäft ziehen zu lassen. Ich möchte mich in einem Kleidchen für sie vor dem Spiegel drehen. Unsere Arme schwingen beim Gehen im selben Takt, wir essen Eis und lassen es unser Kinn herabrinnen. Sie schimpft nicht, wenn das Schokoladeneis Flecken auf meinem Hemd hinterlässt, und wenn wir nach Hause kommen, haben wir viele schöne Geheimnisse vor Dad.
Sie hat mir den Rücken zugekehrt. »Nein, Neva. Das muss ich allein machen.«
Ich würde sie gerne fragen, wo sie überhaupt hinwill. Aber jeder braucht Geheimnisse, das hat sie selbst gesagt. Also geht sie, und ich vergrabe mich unter meiner Decke – meiner ganz persönlichen Protektosphäre.
Es hämmert in meinem Kopf, in meinem Traum. Nur allmählich wird mir klar, dass das Wummern von außen kommt. »Nev!« Sanna klopft nicht bloß an meine Tür, sie spielt ein ganzes Schlagzeugsolo darauf. Sie weiß, wo wir den Zweitschlüssel verstecken. Dad kann es nicht leiden, wenn Sanna sich selbst hereinlässt, aber für Mom und mich gehört sie zur Familie.
Ich werfe einen Blick auf den Wecker. Fast Mittag. Ich will bloß weiterschlafen. »Gib mir eine Minute«, jammere ich.
Aber das tut sie nicht. Sie platzt einfach herein. »Auf mit dir.« Sie schaut herab auf das schmuddelige und wahrscheinlich leicht müffelnde Häufchen Elend, das ihre beste Freundin darstellt. »Was soll diese Zombienummer?«
»Ich hab gesagt, du sollst mir noch eine Minute geben.« Ich kuschele mich in mein Bett, genieße die tröstende Schwere der Überdecke und die Wärme darunter. Sie reißt mir beide Decken weg. Die kalte Luft dringt unter mein übergroßes graues T-Shirt. Ich kriege eine Gänsehaut.
»Keine Zeit. Zieh dich an.« Sie nimmt ein Paar Jeans vom Boden und wirft sie mir zu.
»Wieso?«
Sie sucht nach zwei zueinanderpassenden Schuhen, gibt schließlich auf und reicht mir einen grauen und einen rosafarbenen Turnschuh. Danach öffnet sie meinen Schrank und zieht ein graues Hemd heraus. »Hier. Zieh das an.« Weitere Klamotten fliegen mir entgegen. »Nev, brauchst du eine geprägte Einladungskarte? Beweg dich.« Sie wirkt leicht getrieben, gehetzt. Nun wühlt sie in meinem Schmuckhaufen auf der Kommode herum. An einem ihrer Finger baumelt meine Uhr, an einem anderen die Schneeflockenkette.
»Ich gehe nirgendwohin.« Ich kratze an einem weißen Fleck auf meiner Hose.
»So bestimmt nicht.« Sie zieht mir mein T-Shirt über den Kopf und schleudert es in die Ecke. Schützend lege ich die Arme über meine
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