Neva
wir uns dem Platz nähern, bleibt sie abrupt stehen. »Hier«, sagt sie und drückt mir eine Sonnenbrille in die Hand. »Inkognito.«
Beinahe muss ich lachen. Glaubt sie ernsthaft, dass eine normale Sonnenbrille die ideale Tarnung darstellt? Dennoch tue ich ihr den Gefallen. Langsam setzt Sanna sich wieder in Bewegung, sie schlendert fast. Der Platz ist voller Menschen. Einige sitzen am Brunnen. Andere überqueren ihn auf dem Weg zum Nationalmuseum oder zum Gericht, die sich jeweils am Rand der großen Fläche gegenüberstehen. In der Mitte des Platzes ragt eine sieben Meter hohe Bronzestatue von Dr. Benjamin L. Smith auf, die gütig auf die uniformen Massen herabblickt.
»Das sind sie«, flüstert Sanna. »Die mit dem blauen Hemd und die mit der großen gelben Tasche.«
Wir nähern uns zwei durchschnittlich aussehenden Frauen mittleren Alters. So stelle ich mir Revolutionärinnen nicht gerade vor.
»Sanna, lass dich anschauen.« Beide Frauen herzen und drücken Sanna. Die Frau in Blau stellt sich als Senga vor, ihre Freundin heißt Carson. Sie kommen mir bekannt vor. Vielleicht habe ich sie auf der Beerdigung von Sannas Mom gesehen, aber das ist viel zu lange her. »Herzlichen Glückwunsch zum Abschluss«, meint Senga. »Dass du am Nationalinstitut für Forschung und Entwicklung studierst … Deine Mutter wäre so stolz auf dich.«
Sanna tut ihre Bewunderung mit einem Schulterzucken ab. »Jep, ich bin jetzt total erwachsen. Das hier ist meine Freundin Neva …«
Ich räuspere mich, bevor sie auch noch meinen Nachnamen verrät.
Carson hält mir die Hand hin. »Du musst Lilys Tochter sein. Sie …«
Senga stößt ihr den Ellenbogen in die Rippen, bevor ich ihre Hand schütteln kann. Die beiden werfen sich einen wissenden Blick zu.
»Sie kennen meine Mom?«, frage ich. Sie hat die beiden mir gegenüber nie erwähnt.
»Ja«, antwortet Carson.
»Nein«, fährt Senga dazwischen.
»Ich meine, nein«, verbessert Carson sich. »Nicht persönlich. Aber Lily Adams kennt man ja. Und Neva ist ein so ungewöhnlicher Name.«
Carsons Hände bewegen sich unaufhörlich. Sie nestelt an einem losen Knopf an ihrem Hemd, dann beginnt sie, an den Nägeln zu kauen. Senga schaut ununterbrochen von einer Seite zur anderen. Die beiden machen mich nervös. Ich zupfe an Sannas Ärmel. Ich möchte gehen. Sanna schiebt mich zur Seite. »Habt ihr Informationen für uns?«, fragt Sanna.
Senga nickt. »Eine stumme Demonstration«, flüstert sie. »Morgen. Hier.«
»Was sollen wir tun?«, fragt Sanna, ohne die Lippen zu bewegen. Ich verstehe sie, aber Senga und Carson eindeutig nicht. Sie wiederholt ihre Frage, klingt jedoch immer noch, als hätte sie einen Schlaganfall erlitten.
»Seid um elf Uhr dreißig hier. Senga und ich schieben einen Sandwich-Wagen. Eine von euch kommt zu uns und bestellt ein Sandwich.«
Das ist absolut lächerlich. Diese Frauen benehmen sich wie in einem schlechten Spionagefilm. Sie sehen kein Stück nach Revolte aus. Wahrscheinlich könnten sie sich nicht einmal gegen ihre Pantoffelhelden von Ehemännern auflehnen. Andererseits ist vielleicht genau das ja das Geniale daran. Sie sind von Natur aus perfekt getarnt.
Carson fährt fort: »Wir geben euch ein paar Flyer. Die Demo beginnt um zwölf Uhr mittags. Ihr merkt dann schon, was zu tun ist.«
»Das ist für euch.« Verstohlen überreicht Sanna Senga einen großen bräunlichen Umschlag.
»Was ist das?«, fragt Senga und schaut sich um, ob jemand zusieht.
»Ein Zeitungsartikel von draußen. Aus der Zeit, als die Protektosphäre versiegelt wurde.«
»Sanna, nein!« Ich will mir den Umschlag schnappen, doch Senga steckt ihn in ihre Tasche.
»Neva«, mahnt Sanna mich streng. »Reg dich ab.«
»Aber …«, setze ich an, als ich bemerke, dass die Leute die Köpfe nach uns umdrehen. Ich schiebe meine Hände tief in die Taschen. Mir wird heiß vor Zorn.
»Woher hast du das?«, will Carson wissen.
»Schaut einfach, ob ihr Verwendung dafür habt.« Auch Sanna schiebt die Hände in die Taschen.
Ich kann einfach nicht fassen, dass sie diesen Frauen den Artikel gegeben hat. Klar, ich traue ihnen durchaus zu, dass sie mit einem Rezept für Apfelkuchen umgehen können – aber mit hochbrisanten Informationen? Und wie können sie den Zeitungsartikel einsetzen, ohne dabei mich oder meinen Dad zu verraten?
Senga stößt ihre Freundin an.
»Wir gehen jetzt besser«, erklärt Carson, drückt uns an sich und fügt laut hinzu: »Es war so schön, euch mal
Weitere Kostenlose Bücher