Nevada Pass
steilwandige Schluchten, durch Tunnels und über schmale Simse, die aus dem Fels gesprengt worden waren.
Marica blickte durch ein im Windschatten gelegenes Fenster hinaus, das einigermaßen schneefrei war, und dachte nicht zum erstenmal, daß diese Berge nichts für Leute mit schwachem Herzen und Neigung zu Schwindelanfällen waren. In diesem Augenblick schwankte und ratterte der Zug über eine aus Balken zusammengezimmerte Brücke, die über einen, wie es schien, bodenlosen Abgrund führte und deren unterste Stützpfeiler sich in der düsteren und verschneiten Schlucht tief unten verloren.
Als die Lokomotive die Brücke hinter sich hatte, fuhr sie in einer großen Kurve nach rechts und setzte ihren beschwerlichen Weg nach oben fort – auf der linken Seite säumten turmhohe schneebedeckte Fichten ihren Weg, und rechts gähnte der Abgrund. Der Bremswagen hatte die Brücke gerade passiert, als Marica stolperte und beinah zu Boden gefallen wäre, als die Zugbremsen aufkreischten und den Zug jäh zum Stehen brachten. Die Männer im Speisesalon mußten zwar nicht so mühsam um ihr Gleichgewicht ringen, weil sie alle saßen, aber Claremonts Fluch kam dennoch allen aus den Herzen. Binnen weniger Sekunden hatten sich Claremont, O'Brien, Pearce und – etwas langsamer – auch Deakin erhoben, waren auf die hintere Plattform des ersten Waggons getreten und in den knöcheltiefen Schnee auf dem Bahnkörper hinuntergestiegen.
Banlon kam ihnen mit von Entsetzen verzerrtem Gesicht entgegengelaufen. O'Brien hielt ihn fest und sah ihn prüfend an. Banlon schüttelte seine Hand ab und schrie: »Um Himmels willen, kommen Sie! Schnell! Er ist abgestürzt.«
»Wer?«
»Jackson. Mein Heizer!« Banlon rannte zur Brücke, blieb stehen und starrte in die dunkle Tiefe. Dann lief er ein paar Schritte weiter und spähte wieder hinunter. Und dann ließ er sich auf die Knie nieder und legte sich schließlich bäuchlings in den Schnee. Im Nu waren die anderen bei ihm – unter ihnen inzwischen auch Sergeant Bellew mit einigen Soldaten. Alle spähten suchend über den Rand der Brücke:
Zwanzig, vielleicht auch dreißig Meter unter ihnen lag auf einem Felsvorsprung eine leblose Gestalt. Noch fünfzig Meter weiter unten war undeutlich das schäumende Wasser des Flusses zu erkennen.
»Nun, Doktor Deakin?« fragte Pearce. Die Betonung auf dem Wort ›Doktor‹ war sehr dezent, aber sie war zu hören.
Deakin erwiderte kurz angebunden: »Er ist tot. Das sieht doch jeder Idiot.«
»Ich betrachte mich nicht als Idioten, und ich sehe es nicht«, sagte Pearce sanft. »Vielleicht braucht er ärztliche Hilfe. Was meinen Sie, Colonel Claremont?«
»Ich habe nicht das Recht, diesen Mann zu bitten –«
Deakin unterbrach ihn: »Das Recht hat Pearce auch nicht. Wenn ich hinuntersteige – welche Garantie habe ich, daß Pearce das Seil, an dem ich hänge, nicht losläßt? Wir alle wissen, was für eine hohe Meinung der Marshal von mir hat, und wir wissen auch alle, daß das Gericht mich zum Tode durch den Strang verurteilen wird. Es würde dem Marshal eine Menge Zeit und Mühe ersparen, wenn ihm das Seil aus den Händen glitte.«
»Sechs meiner Soldaten werden das Seil halten, Deakin«, sagte Claremont mit steinernem Gesicht. »Sie beleidigen mich, Sir.«
»Ach ja?« Deakin betrachtete ihn nachdenklich. »Ja, ich glaube, Sie haben recht. Ich bitte um Entschuldigung.« Er nahm das Seilende, machte eine doppelte Schlinge, legte sie sich um die Taille und verknotete sie. »Ich brauche noch ein zweites Seil.«
»Noch ein Seil?« Claremont runzelte die Stirn. »Das eine würde schon ausreichen, um ein Pferd zu transportieren.«
»Ich habe eigentlich nicht an ein Pferd gedacht. Hatten Sie die Absicht, Jackson dort unten liegen zu lassen, bis die Geier seine Knochen abgefressen haben? Vielleicht sind Sie ja der Ansicht, daß nur Kavalleristen Anspruch auf eine anständige Beerdigung haben …«
Claremont warf Deakin einen eiskalten Blick zu, drehte sich um und nickte Bellew zu. Eine Minute später erschien ein Soldat mit einem weiteren Seil, und wiederum zwei Minuten später hatte Deakin auf dem Felsvorsprung neben dem zerschmetterten Körper von Jackson Fuß gefaßt.
Nahezu eine Minute lang untersuchte Deakin auf den Knien die hingestreckte Gestalt, dann schlang er das zweite Seil um Jackson und verknotete es. Er richtete sich auf, gab mit der Hand ein Zeichen und wurde wieder auf die Brücke hinaufgezogen.
»Nun?« fragte Claremont
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