Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
mich leise: »Findest du, ich war deiner Base gegenüber zu forsch, Nevare? Wenn ja, möchte ich mich dafür entschuldigen, bei dir und bei ihr. Ich hatte nicht die Absicht, sie auszunutzen.«
»Sie auszunutzen?« Ich lachte laut. »Mensch, Spink, wenn ich jemanden beschützen wollte, dann doch wohl dich! Meine Base nutzt mit ihrer schockierenden Art de i ne Gutmütigkeit aus. Erst flötet sie uns wie eine Str a ßenmusikantin was auf ihrer Pfeife vor, und einen M o ment später fordert sie deinen Arm und will sich von dir eskortieren lassen, als wäre sie die Königin höchstpe r sönlich. Nein. Du hast nichts falsch gemacht. Sie ist nur so merkwürdig. Ehrlich gesagt, ich finde ihr Verhalten peinlich.«
»Aber Nevare, das braucht es dir wirklich nicht zu sein. Ich finde ihre Art, nun ja, charmant. Ich bin noch nie zuvor einem Mädchen begegnet, das so direkt und so ehrlich ist. Sie nimmt mir die Verlegenheit. Und gerade deshalb, eben weil ich mich in ihrer Gegenwart so ung e zwungen fühle, dachte ich, dass ich mich ihr gegenüber vielleicht etwas zu zwanglos benommen habe, als ich ihr meinen Arm anbot, ohne dich vorher um Erlaubnis zu bitten. Ich bitte nochmals um Verzeihung, wenn ich mir zu viele Freiheiten herausgenommen haben sollte.«
»Dazu besteht kein Grund, Spink. Wenn überhaupt, dann ist sie diejenige, die sich zu viele Freiheiten herau s nimmt. Kaum hat sie dich kennengelernt, schon duzt sie dich. Ich wollte Epiny doch bloß zurechtweisen und ihr zeigen, dass ich sie, wenn sie sich wie ein verzogenes Kind benimmt, auch wie ein solches behandle. Und jetzt möchte ich mich bei dir entschuldigen, wenn ich dich mit dem, was ich zu ihr gesagt habe, gekränkt haben sollte.«
»Mich? Gekränkt? Nein, überhaupt nicht. Es war nur, nun, du hast dich auf einmal so seltsam verhalten. Du hast sie am Arm gepackt, als wolltest du ihr wehtun, und wie sie dich angeschaut hat, als hätte sie dich noch nie zuvor gesehen … nun, ehrlich gesagt, hat mir das für e i nen Moment richtige Angst eingejagt. Ich befürchtete schon, ihr würdet euch gegenseitig etwas antun.«
Ich war entsetzt. »Spink! Du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich niemals einem Mädchen etwas tun würde, und schon gar nicht meiner eigenen Base!«
»Aber ja! Ja, sicher, Nevare! Es war nur, dass du … dass du dort draußen für einen Moment nicht der Nevare zu sein schienst, den ich kenne.«
»Also … Das ist ganz komisch. Einen Moment lang kam ich mir auch nicht wie ich selbst vor, ehrlich g e sagt.«
Wir waren so verblüfft über diese Offenbarung, dass wir für einen Moment in betretenes Schweigen verfielen. Spink ging vom Fenster weg und schaute überall hin, nur nicht zu mir. Er strich mit der Hand über die Rücken der Bücher in den Regalen, über den abgewetzten Tisch und wanderte dann zurück zum Fenster. Er stützte sich mit den Händen auf das Fensterbrett, schaute hinaus in den dunklen Abendhimmel und fragte mich: »Wünschst du dir manchmal, du könntest auch einmal ein solches Haus besitzen? Mit solchen Zimmern wie dem hier, in dem deine Söhne lernen könnten?«
Ich war ein wenig bestürzt über seine Worte. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich bin Soldat, Spink. Alle meine Söhne werden Soldaten sein. Ich werde ihnen alles beibringen, was ich kann, und ich hoffe, sie werden helle genug sein, um rasch Karriere zu machen. Und sol l te e iner von ihnen besonders herausragen, werde ich vie l leicht meinen Bruder bitten, sich für ihn einzusetzen, damit er an der Akademie zugelassen wird, oder eine Kommission für ihn zu kaufen. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, ich rechne nicht damit, jemals ein solches Haus mein eigen nennen zu können. Wenn ich alt bin und meinem König nicht länger dienen kann, wird mein Bruder mich auf seinem Besitz willkommen heißen und mir helfen, meine Töchter gut zu verheiraten. Was könnte ein Soldatensohn sich Besseres wünschen?«
Er wandte sich von seiner Betrachtung des im Du n keln liegenden Anwesens zu mir um und lächelte we h mütig. »Du hast wahrscheinlich tiefergehende Wurzeln als ich. Dieses wunderschöne Haus ist der Sitz deiner Vorfahren, und du bist hier immer noch willkommen. Und so, wie du von Breittal sprichst, bin ich sicher, dass in ein oder zwei Generationen das Haus und das Anw e sen dort diesem hier gleichkommen werden. Für mich aber ist die einzige Heimat, an die ich mich erinnere, Bi t terspringe.« Er lächelte gequält. »Ich liebe das Land
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