Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
drastischen Maßnahme zu greifen. Ich durfte weder Spink noch mich zu dem irrigen Gedanken verleiten, dass wir jemals irgendetwas anderes als Soldaten sein konnten. Ich wechselte das Thema.
»Warum heißt deine Heimat Bitterspringe? Als Zeu g nis dafür, dass dein Vater dort gestorben ist?«
»Nun, das ist in der Tat eine bittere Erinnerung für meine Mutter, aber das ist nicht der Grund. Es gibt me h rere große Quellen nicht weit von unserem Haus. Das Wasser, das dort entspringt, schmeckt scheußlich, aber mehrere Flachländerstämme verehren die Stelle und b e haupten, dass Menschen von Krankheiten geheilt werden, ihre Intelligenz vergrößern oder in den Genuss von wu n dersamen Visionen gelangen können, indem sie in di e sem Wasser baden oder davon trinken. Sie bieten meiner Fam i lie Handelswaren an als Gegenleistung dafür, dass sie freien Zugang zu den Quellen bekommen. Ich glaube, es ist der einzige Racheakt meiner Mutter, zu dem sie fähig ist, dass sie es keinem Mitglied des Volkes, das meinen Vater getötet hat, gestattet, die Quellen zu bes u chen. Es ärgert sie sehr, denn sie sagen, die Quellen seien heilig, und sie seien immer ein Ort des Friedens gewesen, offen für alle. Aber meine Mutter erwidert darauf immer nur: ›Das alles habt ihr verändert, als ihr meinen Mann getötet habt.‹ Im Laufe der Jahre hat es deswegen den einen oder anderen Zwischenfall gegeben, als Krieger versucht h a ben, zu den Quellen vorzudringen, um Wa s ser zu stehlen. Aber die alten Soldaten meines Vaters schlagen sie i m mer wieder zurück. Es ist ihnen ein He r zensanliegen.«
Die letzten paar Sätze bekam ich kaum mit. Ich hörte ein merkwürdiges Geräusch. Zuerst hielt ich es für V o gelgezwitscher aus dem Garten, doch dann wurde mir bewusst, dass das leise Trillern den Rhythmus von Atemzügen hatte. Die Tür des alten Unterrichtsraumes stand halb offen. Ich glaubte, sie geschlossen zu haben. Ich ging leise durch das Zimmer und öffnete die Tür mit einem Ruck. Draußen stand Epiny, die Otterpfeife zw i schen den Lippen, obwohl sie zum Abendessen angez o gen war. Sie grinste mich an, hielt ihr silbernes Spielzeug mit den Zähnen fest und ließ es leise pfeifen. »Es ist Zeit, dass ihr zum Abendessen runterkommt«, sagte sie.
»Hast du gelauscht?«, fragte ich streng.
Sie spie die Pfeife in ihre Hand. »Nicht richtig. Ich hab bloß vor der Tür gestanden und zugehört, um eine Pause in eurem Gespräch abzuwarten, in der ich euch sagen konnte, dass das Essen fertig ist, statt euch einfach mittendrin zu unterbrechen.«
Sie sagte das so fröhlich, dass ich es ihr fast glaubte. Dann entschied ich, dass ich mich an meinen früher g e fassten Entschluss bezüglich meiner Base halten würde. Wenn sie sich wie eine unerzogene Zehnjährige benahm, dann würde ich auch so mit ihr reden. »Epiny, an Türen zu lauschen, ganz gleich aus welchem Grund, ist unhö f lich. Das solltest du in deinem Alter eigentlich wissen.«
Sie legte den Kopf leicht schief. »Ich weiß, wann es unhöflich ist, an Türen zu lauschen, wertester Vetter. Und jetzt ist es Zeit, dass wir nach unten zum Abende s sen gehen. Vater isst sehr gerne, und es ist ihm zuwider, wenn sein Essen nicht mit genau der richtigen Temper a tur serviert wird. Du weißt doch, dass es unhöflich ist, seinen Gastgeber auf sein Abendessen warten zu lassen, oder etwa nicht?«
Jetzt platzte mir der Kragen. »Epiny, du bist fast so alt wie ich, und ich weiß, dass meine Tante und mein Onkel dir Manieren beigebracht haben. Warum führst du dich auf wie ein unartiges Kind? Warum kannst du dich nicht wie eine junge Dame benehmen?«
Sie lächelte mich an, als habe sie mich endlich dazu gezwungen, sie zu durchschauen. »Tatsächlich bin ich ein Jahr und vier Monate jünger als du. Und weißt du, in dem Moment, wo ich anfange, mich wie eine wohlerz o gene junge Dame zu benehmen, wird mein Vater anfa n gen, mich wie eine solche zu behandeln. Von meiner Mutter erst gar nicht zu reden. Und das wird der Anfang vom Ende meines Lebens sein. Nicht, dass ich erwarte, dass du verstehst, wovon ich rede. Spink – würde es dir etwas ausmachen, mich zum Abendessen zu geleiten? Oder findest du mich kindisch und verzogen?«
»Das würd ich gerne«, erklärte Spink. Zu meiner Ve r blüffung durchquerte er flink das Zimmer und bot Epiny beflissen den Arm an. Er errötete dabei, und sie erschien mir gleichermaßen verlegen. Dennoch n ahm sie sein A n gebot an, und sie gingen vor mir aus dem
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