Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Zimmer. Ep i nys lange hellblaue Röcke raschelten auf den Marmorst u fen, als sie die Treppe hinuntergingen. Sie hatte ihr Haar glatt nach hinten gebürstet und im Nacken zu einem Knoten gerafft, den ein goldenes Netz umfing. Spinks Rücken war gerade wie ein Ladestock; er war nicht viel größer als sie. Als ich ihnen folgte, kam mir der Geda n ke, dass sie wie ein Paar aussahen.
Doch dann machte Epiny dieser Illusion jäh ein Ende. Sie ließ seinen Arm los, raffte ihre Röcke und trippelte hurtig die Treppe hinunter, einen verwirrt dreinblicke n den Spink zurücklassend. Ich schloss zu ihm auf, wä h rend Epiny bereits im Speisezimmer verschwand.
»Mach dir nichts draus«, sagte ich zu ihm. »Es ist so, wie ich es dir gesagt habe. Sie ist eben noch ein sehr a l bernes kleines Mädchen. Meine Schwestern haben eine ganz ähnliche Phase durchgemacht.«
Was ich nicht sagte, war, dass die Reaktion meines Vaters auf das flatterhafte Verhalten meiner Schwestern weit strenger gewesen war als die meines Onkels auf Epinys exzentrisches Auftreten. Ich erinnerte mich, wie er meine Mutter mit ernster Miene ermahnt hatte: »Wenn wir sie nicht bald in aller Strenge dazu anhalten, sich wie gesittete junge Damen zu betragen und artig und zurüc k haltend zu sein, werden sie niemals angemessene Partien finden. Ich bin, wie du weißt, von neuem Adel, Madame. Einen Teil ihrer Chancen, in der Gesellschaft aufzuste i gen, müssen sie sich selbst verschaffen, und das tun sie am besten, indem sie sich wie sittsame, demütige und keusche junge Frauen benehmen.«
»Wie einst ich«, hatte meine Mutter hinzugefügt, und aus ihrer Stimme hatte eine Spur von Bitterkeit oder Reue herausgeklungen, die ich nicht hatte verstehen kö n nen.
Ich glaube nicht, dass mein Vater diesen bitteren U n terton überhaupt wahrgenommen hatte. »Wie du, meine Teure, heute wie ehedem. Ein treffliches Beispiel dafür, wie eine Edeldame und Ehefrau sein sollte.«
Als wir das Speisezimmer betraten, stand Epiny schon hinter ihrem Stuhl. Mein Onkel hatte seinen Platz am Kopf der Tafel. Purissa wartete an seinem linken Elle n bogen. Das Kind war kaum noch wiederzuerkennen, so fein war es zurechtgemacht. Jemand hatte ihm das Haar gebürstet und ein sauberes Kinderkleid angezogen. Spink und ich nahmen rasch unsere Plätze ein, und ich murme l te eine Entschuldigung, dass wir meinen Onkel hatten warten lassen.
»Bei Familienmahlzeiten sind wir nicht gar so för m lich, Nevare, und eben das haben wir heute Abend, denn du gehörst ganz eindeutig zur Familie, Nevare, und de i nen Freund hier scheinst du ja fast als einen Bruder zu betrachten. Ich bedaure, dass deine Tante Daraleen und dein Vetter Hotorn nicht auch hier sein können. Er ist fort zu seiner Schulausbildung, und sie wurde an den Hof gerufen, um unserer Königin während der Tage der Rat s versammlung aufzuwarten. Sie werden den Rat zwar nicht vor nächsten Ersttag einberufen, aber die Damen des Hofes brauchen mindestens ein Dutzend Tage, um sich dem Anlass entsprechend auszustaffieren. Und so ist sie denn abgereist, und wir müssen zusehen, wie wir o h ne sie klarkommen. Aber wir werden uns in ihrer Abw e senheit schon so gut behelfen, wie wir können.«
Mit diesen Worten nahmen wir unsere Plätze ein, und sofort kam ein Diener mit der Suppe herein. Das Essen war das Beste, das ich seit meiner Ankunft in Alt-Thares bekommen hatte. Die Speisen waren für Genießer zub e reitet, nicht in gewaltigen Töpfen für Hunderte. Der U n terschied im Geschmack und in der Konsistenz erschien mir nach so vielen für große Mengen von Essern gekoc h ten Mahlzeiten in der Akademie gewaltig. Ich empfand es nachgerade als eine Ehre, ein genau nach meinen Vo r stellungen gebratenes Kotelett serviert zu bekommen. Welch ein Unterschied zu den in wässriger Soße dü m pelnden Brocken, zu denen das Fleisch in der Küche der Akademie gemeinhin verunstaltet wurde. Ich langte tüc h tig zu, bemüht, dabei den Eindruck von übermäßiger Gier zu vermeiden, und schloss die Mahlzeit mit einer großen Portion Apfelauflauf ab.
Spink hielt locker mit mir Schritt, schaffte es aber gleichzeitig, sein Gespräch mit Onkel Sefert nicht abre i ßen zu lassen. Er äußerte große Bewunderung für das Haus meines Onkels und stellte ihm eine Anzahl von Fragen zum Haus selbst und zum Anwesen im Allgeme i nen. Der Kern seiner Fragen schien zu sein, wie lange eine Adelsfamilie brauchte, um so einen großartigen Stammsitz zu etablieren. Die
Weitere Kostenlose Bücher