Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
dort. Es ist mein Zuhause. Aber als dein Vater in den Adel s stand erhoben wurde, suchte er sich Land aus, das am Fluss lag, urbares Land, Weideland. Land, das die Art von Wohlstand hervorbringen kann, die es ihm ermö g licht, wie ein Edelmann zu leben. Meine Mutter wählte unser Land nach einem anderen Kriterium aus. Sie wäh l te das Land, wo das Gebiet lag, in dem mein Vater get ö tet wurde. Seine Grabstätte war verloren: Seine Truppen hatten ihn hastig verscharrt, weil sie immer noch b e fürchteten, sie könnten von den Flachländern überrannt werden, und sie wollten nicht, dass ihnen seine Gebeine als Trophäe in die Hände fielen. Also begruben sie ihn und verwischten die Spuren des Grabes, so dass wir es niemals haben finden können. Aber meine Mutter weiß, dass es irgendwo auf dem Land ist, das sie auswählte, und sie sagt, dass alles, was wir dort bauen oder tun, zum Gedenken an ihn geschieht. Das Problem ist nur, für viel mehr ist das Land auch nicht gut. Du kannst keinen Sp a ten hineinstechen, ohne auf einen Stein zu stoßen, und wenn du den aufliest und beiseite tust, findest du darunter gleich zwei neue. Du kannst dort jagen und nach Na h rung suchen, aber du kannst dort kein Feld bestellen oder auch nur Schafe weiden lassen. Mein Bruder versucht es mit Schweinen und Ziegen, aber die fressen das Land schnell kahl und hinterlassen nur umgewälzte Felsbro c ken. Ich halte es für keine gute Idee; aber er ist der Erbe, nicht ich.«
Er sagte das so bekümmert, dass ich fragen musste: »Und wenn es dein Land wäre und du darauf schalten und walten könntest, wie du es für richtig hältst?« Ich spürte, dass ich ihn damit zur Sünde des Undanks verle i tete, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, ihm diese Frage zu stellen.
Er lachte, kurz und verbittert. »Steine, Nevare. Was wir haben, sind Steine. Unmengen Steine. Die Idee kam mir zum ersten Mal, als einer der Soldaten meines Vaters zu uns kam, um seinen Ruhestand bei uns zu verbringen. Er schaute über unser Land und fragte, ob wir Steine als Feldfrüchte oder nur so zum Vergnügen anbauten. Und da dachte ich, wenn Steine alles sind, was wir haben, dann sollten wir auch versuchen, damit Geld zu machen. Unser Haus, so klein und bescheiden es ist, besteht vol l ständig aus Stein, und die Mauern zwischen unseren s o genannten Feldern sind ebenfalls aus Stein. Ich habe g e hört, der Bau der Straße des Königs sei aus Mangel an geeignetem Stein ins Stocken geraten. Nun, wir haben Steine im Überfluss.«
»Steine zu exportieren, das klingt schwierig. Gibt es in eurer Gegend Straßen?«
Er zuckte mit den Achseln. »Es könnte welche geben. Du hast mich nach meinen Wunschträumen gefragt, N e vare, nach meinen Luftschlössern, nicht danach, ob sie zu verwirklichen sind. Es würde Jahre dauern, so etwas zu verwirklichen. Aber meine Familie wird dort für Gener a tionen leben, warum also nicht jetzt damit anfangen?«
Ich hatte mich mit dem Gespräch in eine Situation hineinmanövriert, die mir Unbehagen bereitete. Alle wussten, dass die Karriere eines Mannes durch seine G e burt vorherbestimmt war. Diese Ordnung infrage zu ste l len bedeutete, den Willen des gütigen Gottes selbst infr a ge zu stellen. Alle wussten, wie es endete, wenn man versuchte, gegen sein Schicksal anzukämpfen. Ein Sohn musste das werden, wozu er geboren war. Meine Familie war in dieser Hinsicht sehr streng. Was man freilich nicht von allen adeligen Familien sagen konnte. Ein ganz not o rischer Fall war der des Hauses Offeri. Als der Erstgeb o rene des Hauses gestorben war, hatte Lord Offeri jeden seiner Söhne eine Stufe auf der Rangleiter emporgeh o ben, sodass der Soldatensohn zum Erben, der Priester zum Soldaten und der Künstler zum Priester aufrückte. Alle scheiterten in ihrer neuen, vom Vater bestimmten Laufbahn. Der neue »Erbe« sprang zu militant mit den Bediensteten des Gutes um, worauf viele von ihnen flüchteten u nd die Ernte auf dem Feld verrotten ließen. Der Priestersohn hatte nicht die Konstitution, um das a n strengende und entbehrungsreiche Leben eines Soldaten auszuhalten und starb, noch ehe er auch nur ein einziges Mal ein Schlachtfeld betreten hatte. Der Künstler, der gezwungen worden war, Priester zu werden, war zu kre a tiv in seiner Auslegung der Schrift und sah sich durch den Abt seines Ordens dem Vorwurf der Ketzerei ausg e setzt. Die Geschichte wurde oft jenen Familien als ma h nendes Beispiel vorgehalten, die erwogen, zu einer solch
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