Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Schultern. Als ich heranritt und abstieg, fasste sie sich in den Nacken, raffte es nachlässig wieder zusa m men und stopfte es in das Netz zurück.
»Ich bin wohlauf, natürlich!«, antwortete sie mit e i nem Lächeln. »Oh, was für ein wundervoller Galopp das war! Er hat beiden von uns gutgetan. Celeste bekommt so selten Gelegenheit, mal so richtig die Beine zu strecken und die Hufe fliegen zu lassen.«
»Ich dachte, dein Pferd sei mit dir durchgegangen!«, rief Spink und schaute sie mit großen Augen an.
»Nun ja, das ist sie auch, aber nur, weil ich sie dazu angespornt habe. Kommt, lasst uns die Pferde ein Stück zu Fuß am Fluss entlangführen, damit sie sich wieder abkühlen können. Es ist wunderschön hier, selbst zu di e ser Jahreszeit.«
Ich hatte nun wirklich genug. »Epiny, ich kann einfach nicht glauben, wie du dich aufführst! Was ist in dich g e fahren, dass du uns einen solchen Schreck einjagst? Spink und ich hatten Todesangst um dich, von den and e ren Leuten im Park, die du mit deinem wilden Ritt nicht nur erschreckt, sondern auch gefährdet hast, gar nicht zu reden! Was ist denn b loß los mit dir, dass eine junge Frau von deiner Herkunft und deinem Alter sich aufführt wie eine verantwortungslose Range?«
Sie hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, ihre Stute am Zügel. Mit einem Ruck blieb sie stehen und wandte sich zu mir um. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich so vollkommen, als hätte sie eine Maske abgenommen, und in gewisser Hinsicht hatte sie das wohl auch. Sie beugte sich zu mir herüber, während sie sprach, und wäre sie ein Pferd gewesen, hätte sie die Ohren angelegt und die Zä h ne gebleckt. »Der Tag, an dem ich beginne, mich statt wie ein ›Mädchen‹ wie eine ›Frau‹ zu benehmen, der Tag, an dem ich mich den Fesseln und Zwängen unte r werfe, die für mich vorgesehen sind, ist der Tag, an dem meine Eltern mich an den Meistbietenden versteigern werden. Ich habe gehört, dass die Frauen an der Grenze ihr eigenes Leben führen dürfen. Von dir hätte ich eine modernere Weltsicht erwartet, mein lieber Vetter. Stat t dessen bestätigst du, was deine Einstellungen betrifft, immer wieder aufs Neue meine schlimmsten Befürchtu n gen statt meiner kühnsten Hoffnungen.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest!« Ich war wütend und entrüstet und fühlte mich auf seltsame Weise verletzt von ihren abschätzigen Worten.
»Ich schon«, sagte Spink leise. »Meine Mutter spricht oft davon.«
»Wovon?«, wollte ich wissen. Schlug er sich schon wieder auf die Seite von Epiny? Ich kam mir vor wie bei meinem ersten Versuch, Varnisch zu lernen; ich hörte die Leute reden, aber ihre Worte hatten keine Bedeutung für mich.
»Von Frauen, die lernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen«, sagte Spink. »Ich habe dir ja erzählt, wie unser erster Verwalter uns betrogen hat, als mein Bruder und ich kaum mehr als kleine Jungen waren. Meine Mu t ter gibt die Schuld daran ihrer Erziehung und ihrer ma n gelnden Ausbildung. Sie sagt, wenn sie in der Lage g e wesen wäre, die Geschäftsbücher zu lesen, und wenn sie gewusst hätte, wie man ein solches Anwesen führt, hätte sie nie und nimmer das verloren, was das Vermögen meines Bruders hätte sein sollen. Als sie dann nach e i nem Lehrer für meinen Bruder schickte, bestand sie de s halb auch darauf, dass auch sie selbst an allen Lektionen teilnehmen durfte. Und sie hat meinen beiden Schwestern all das beigebracht, was sie wissen müssen, falls sie j e mals frühzeitig zu Witwen werden sollten, die kleine Kinder durchbringen müssen.«
Ich starrte ihn an, außerstande, irgendetwas zu erw i dern.
»Genau«, sagte Epiny, als rechtfertige das ihr verrüc k tes Benehmen.
Da fand ich meine Sprache wieder. »Ich würde eher der Familie deiner Mutter die Schuld daran geben, weil dein Onkel euch nicht zu Hilfe geeilt ist, als ihr in Not wart.«
»Ihnen die Schuld zu geben wird das, was geschehen ist, auch nicht ungeschehen machen. Und obwohl ich bezweifle, dass mein älterer Bruder jemals meine Frau und meine Kinder einem solchen Schicksal überlassen würde, kann niemand voraussagen, dass er in einer so l chen Notsituation am Leben wäre und uns helfen könnte. Meine Mutter sagt immer, dass keine ihre Töchter jemals aufgrund von Unwissenheit ein solches Los wird erleiden müssen wie sie.«
Mir fiel eine ganze Reihe von Erwiderungen ein, die man darauf hätte geben können, von taktlosen bis hin zu höhnischen. Stattdessen wandte ich mich meiner
Weitere Kostenlose Bücher