Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Risiken eingehen, wenn man unser Ansehen in der Welt vergrößern will.« Dann senkte er plötzlich die Stimme. »Und hier zu Hause, meine ich, wären wir klüger beraten, wenn wir uns ein i gen und den König in seinen Plänen unterstützen würden, statt ihn zu bekämpfen. Und es betrübt und ärgert mich, dass dieses Machtgerangel, diese offensichtliche Bevo r zugung von Erstgeborenen zu einer Spaltung in der Ak a demie und zu Unmut unter unseren Soldatensöhnen g e führt hat. Das d arf nicht sein. Es beginnt mit Schikanen an der Akademie, aber wo hört es auf? Darüber möchte ich nicht einmal nachdenken.«
Ich glaube, an jenem Abend lernte ich den Unterschied zwischen der Erziehung von ersten und von zweiten Söhnen kennen. Mein Onkel hatte etwas, das ich als ein Problem wahrgenommen hatte, welches an der Akademie unter den Studenten bestand, aufgenommen und die Fo l gen dieses Problems auf die größere Welt des Militärs übertragen. Ich bin keineswegs sicher, ob mein Vater das auch getan hätte. Ich glaube, er hätte es als einen Mangel an Disziplin an der Schule betrachtet und als ein persö n liches Versagen des Schulleiters. Mein Onkel hingegen betrachtete es als ein ernstes Symptom von etwas, das sich bereits auf das Gemeinwesen im Ganzen auswirkte, und ich spürte förmlich die Tiefe seiner Besorgnis.
Mir fiel nichts ein, was ich auf seine Bemerkungen hätte erwidern können, und im weiteren Verlauf kamen wir auf allgemeinere Themen zu sprechen. Als er uns schließlich eine gute Nacht wünschte, waren Spink und ich in ziemlich gedämpfter Stimmung und gingen ohne weitere Diskussion auf unsere Zimmer.
Die Gewohnheit ließ mich am nächsten Morgen früh wach werden, und das am einzigen Tag der Woche, an dem ich hätte ausschlafen können. Ich vergrub mich in meine Kissen und versuchte noch einmal einzuschlafen, aber mein verstocktes Gewissen erinnerte mich daran, dass ich heute in die Akademie zurückkehren musste und dass ich mit meinen Schulaufgaben noch nicht fertig war. Mit einem Stöhnen reckte ich mich noch einmal und stand dann auf. Ich war gerade dabei, mir am Waschbe c ken das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen, als die Tür aufging und Epiny hereingeschneit kam. Sie hatte sich ihren Morgenmantel über das Nachthemd geworfen, und ihr Haar hing ihr in langen Zöpfen über die Schu l tern. Sie begrüßte mich mit: »Was sollen wir heute m a chen? Vielleicht noch eine Seance?« Ihre Frage war ne c kisch gemeint. Meine Antwort nicht.
»Auf keinen Fall! Epiny, dein Benehmen ist absolut ungehörig! In deinem Alter solltest du niemals unang e meldet das Schlafzimmer eines Mannes betreten, und schon gar nicht in deinem Nachtgewand!«
Sie starrte mich einen Moment an und sagte dann: »Du bist mein Vetter. Du zählst nicht als Mann. Na schön. Wenn du Angst davor hast, eine Seance abzuhalten, wie wär’s dann mit einem kleinen Ausritt?«
»Ich habe eine Menge Hausaufgaben auf. Bitte geh!«
»Na schön, wie du meinst. Ich habe Spink schon g e sagt, dass du wahrscheinlich lieber hierbleiben würdest. Das heißt also, ich kann Sirlofty nehmen.«
Sie wandte sich um. Ich sagte: »Du und Spink, ihr geht reiten? Wann habt ihr das beschlossen?«
»Wir haben schon ganz früh zusammen gefrühstückt.«
»Im Nachthemd?«
»Nun, er war angezogen, aber ich sehe nicht viel Sinn darin, mich anzuziehen, bevor man entschieden hat, was man mit dem Tag anfangen will. Ich werde jetzt gehen und meine Reitröcke anziehen.«
»Das ist skandalös!«
»Es ist in hohem Maße vernünftig. Wenn du wüsstest, wie lange eine Frau braucht, um sich anzuziehen, dann würdest du einsehen, dass ich fast eine ganze Stunde ei n gespart habe. Und es gibt kein kostbareres Gut als Zeit.« Sie hatte die Hand bereits auf dem Türknauf und öffnete die Tür.
»Ich komme mit«, sagte ich hastig. »Und ich reite Si r lofty.«
Sie lächelte mich über die Schulter hinweg an. »Dann solltest du dich aber sputen, wenn du noch etwas essen möchtest, bevor wir aufbrechen.«
Obwohl sie eben noch beteuert hatte, wie lange eine Frau brauche, um sich anzukleiden, wartete sie bereits gestiefelt und gespornt an der Tür, noch bevor ich ein sehr eiliges Frühstück heruntergeschlungen hatte. Spink konnte es ebenso kaum noch erwarten aufzubrechen. Er und Epiny standen im Foyer und plauderten und lachten, sie wieder mit ihrer enervierenden Pfeife zwischen den Zähnen. Ihr Vater wünschte uns freundlich einen schönen Ritt. Er schien nicht die
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