Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Base zu und sagte: »Ich kann mir nicht vorstellen, was das für ›Fesseln‹ und ›Zwänge‹ sein könnten, vor denen du dich so sehr fürchtest, Epiny. Wenn du dich wie eine Dame benimmst, wirst du einen guten Mann finden und in ein schönes eigenes Heim ziehen, wo du umgeben sein wirst von Dienstboten, die sich um dein Wohl kümmern. Es kommt mir so vor, als sei das Einzige, was edle Damen in Alt-Thares tun müssen, sich ihre Haare zurechtmachen und neue, maßgefertigte Kleider für sich bestellen. Sind das die ›Fesseln‹, von denen du sprichst? Es ist eine Schande, dass du deinen Eltern unterstellst, sie wollten dich versteigere, als wärst du eine preisgekrönte Kuh! Wie kannst du etwas so Gemeines sagen, wo dich dein Vater doch so offensichtlich liebt!«
»Fesseln aus Samt und Handschellen aus feiner Spitze können eine Frau genauso wirkungsvoll binden wie so l che aus kaltem Eisen, mein lieber Vetter. Oh, gewiss, mein Vater liebt mich, und das Gleiche kann ich auch von meiner Mutter sagen, und sie werden bestimmt i r gendeinen edlen Sohn aus einer guten Familie finden, der entzückt sein wird von meiner Mitgift und der mich wahrscheinlich sogar gut behandeln wird, besonders wenn ich ihm zeitig und ohne Komplikationen Stam m halter schenke. Der Mann, den sie für mich auswählen, wird ein wichtiger politischer Verbündeter werden, und schon da sehe ich die größten Schwierigkeiten heraufzi e hen, denn mein Vater und meine Mutter haben sehr unterschiedl i che politische Ambitionen, wie du ganz sicher weißt.«
Ich begriff, was sie meinte. Trotzdem erwiderte ich: »So ist es schon i mmer gewesen. Meine Eltern haben meine Frau für mich ausgesucht, und die für meinen ält e ren Bruder ebenso.«
»Die armen Dinger!«, sagte sie mit tief empfundenen Mitgefühl. »An Jungen weggegeben, noch ehe diese überhaupt zu Männern herangewachsen sind! Einem fremdbestimmten Schicksal ausgeliefert wie ein verwa i stes Kätzchen! Wenn meine Zeit zum Heiraten kommt, dann habe ich vor, mir meinen Ehemann selbst auszus u chen. Und ich sage euch, es wird einer sein, der meinen Willen respektiert.« An dieser Stelle schaute sie gerad e wegs und unverblümt Spink an, der sofort die Augen niederschlug und verschämt errötete.
Ich unterdrückte meinen Zorn und schüttelte bloß den Kopf, um meinen Unwillen kundzutun, aber Epiny und Spink schienen dies als eine Geste meines Mitleids mit ihr zu missdeuten.
»Lasst uns die Pferde noch ein Stück spazieren fü h ren«, sagte Spink, und sie marschierten weiter, Seite an Seite. Ich ging Sirlofty holen. Als ich sie wieder einholte, hörte ich, wie Epiny zu Spink sagte: »Gut, ich gebe zu, dass Frauen nicht sonderlich viel Talent für Mathematik und die Naturwissenschaften zu haben scheinen, aber dafür haben wir andere Begabungen, die den Männern fehlen. Ich habe sie in letzter Zeit erforscht.«
»Meine Schwestern sind mindestens genauso gut in Mathe wie ich«, erwiderte Spink darauf. Ich dachte bei mir, dass dies wahrlich keine besondere Leistung war, behielt das aber für mich.
»Vielleicht liegt das daran, dass deine Schwestern fr ü her in diesen Disziplinen unterwiesen wurden als ich. Mir wurden lediglich die Grundbegriffe vermittelt, als ich klein war, und meine Gouvernante machte keinen Hehl aus ihrer Auffassung, dass sie die Grundrechenarten für weit weniger wichtig hielt als die zehn Grundstiche der varnischen Stickerei. Also lernte ich sie eine Woche lang und vergaß sie prompt wieder. Erst später entdeckte ich, dass man auch bei der Handarbeit Proportionen e r kennen und verstehen muss, will man ein Muster ändern, und Mengenverhältnisse, will man ein Rezept anwenden … aber das meine ich nicht, wenn ich von weiblichen Talenten rede.«
Der Pfad hatte uns über eine sanft abfallende B ö schung zu einem weiten, mit Gras bewachsenen Gelände hinuntergeführt. Reste alter Grundmauern ragten aus dem hohen Gras und den Büschen, die dort wuchsen. Eine Ecke eines zerstörten Hauses stand noch, und der Regen, der in der Nacht zuvor gefallen war, bildete Pfützen auf dem unregelmäßig eingesackten Boden. Wir ließen die Pferde daraus trinken; ich hielt das für ungefährlicher, als sie die steile Uferböschung hinunterzuführen und sie von dem stinkenden Flusswasser saufen zu lassen. Vermu t lich handelte es sich bei dem Gebäude um eine ehemal i ge Brauerei. Eine dünne Schicht Erde hatte sich auf dem uralten steinernen Fußboden gebildet; darauf war Gras gewachsen
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