Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
ihre Fühler nach dir ausstreckt!« All diese Zusammenhänge hatte ich selbst hergestellt. Epiny hatte mich lediglich mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht angeschaut und irge n detwas Vages von Magie und »Bleib fest«-Zaubern g e murmelt.
Schlagartig wurde mir alles klar. Ich hatte mir das a l les nur ausgedacht. Es entsprang meiner eigenen blühe n den Phantasie. Hirngespinste, weiter nichts. Nichts von alldem war wirklich passiert. Nachsichtig entschied ich, dass Epiny tatsächlich glaubte, dass Geister sich ihrer Gedanken bemächtigten und sie seltsame Dinge tun und sagen ließen. Sie war keine bewusste Schwindlerin. Ich hatte mich von ihrer Theatralik mitreißen lassen und die unausgesprochenen Einzelheiten beigesteuert, die die »Seance« zu so einer beunruhigenden Angelegenheit ha t ten werden lassen. Wenn ich als rational denkender, m o derner Mensch genau bedachte, was sie gesagt und getan hatte, dann war eigentlich sehr wenig daran. Ich holte tief Luft und schüttelte mit einem Gefühl großer Erleicht e rung meine Ängste ab. Sie waren samt und sonders auf meinem eigenen Mist gewachsen – vermutlich die Strafe, die ich dafür zahlen musste, dass ich mich auf dieses gottlose Seancenspiel eingelassen hatte. Noch e inmal würde mir das nicht passieren. Ich war älter und ich war ein Mann. Ich hatte ihr ein schlechtes Beispiel gegeben, indem ich diesen Unfug mitgemacht hatte. Ich würde diesen Fehler nicht noch einmal machen.
Auch Spink war still und in sich gekehrt. Wortlos starrte er aus dem Fenster auf die vorüberfliegende Lan d schaft. Ich glaube, mein Onkel missdeutete den Grund für unsere Schwermut. Als wir uns den Toren der Ak a demie näherten, holte er tief Luft und teilte uns mit, dass er am Morgen einen Boten vorausgeschickt habe mit der Bitte, der Kommandant möge ihm »eine Stunde seiner kostbaren Zeit« gewähren. »Ich weiß, ihr zwei habt Angst vor dem, was ihr euch und euren Kameraden durch eure Ehrlichkeit womöglich eingebrockt habt. Wenn Oberst Stiet ein ehrbarer und anständiger Offizier ist, dann wird ihm sehr daran gelegen sein zu erfahren, dass es im Bereich seines Kommandos zu Übergriffen und Misshandlungen kommt. Leutnant Tiber hat Anspruch auf eine gerechte Behandlung, wie alle Erstjährler, ganz gleich welcher Herkunft. Stiet muss Maßnahmen zur S i cherstellung und Durchsetzung absoluter Gleichbehan d lung ergreifen, und ich beabsichtige, ihn zu bitten, mich über den Fortgang seines Verfahrens gegen die Übeltäter auf dem Laufenden zu halten. Wenn das, was ich höre, mich nicht zufriedenstellt, werde ich deinem Vater schreiben oder mich direkt an das Gremium wenden, das die Akademie beaufsichtigt. Falls es so weit kommen sollte, könnte es sein, dass ihr beide als Zeuge aufgerufen werdet. Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird, aber ich möchte ehrlich zu euch sein. Ohne eigenes Ve r schulden seid ihr in gefährliche Gewässer geraten. Nev a re, ich möchte, dass du mir täglich schreibst, und zwar ohne mir etwas zu verschweigen. Wenn deine Briefe nicht wie erwartet bei mir eintreffen, werde ich wieder hier vorstellig werden, um dafür zu sorgen, dass du diese Pflicht nicht vernachlässigst.«
Ich bekam einen gehörigen Schreck, als er das sagte, aber ich antwortete pflichtschuldig: »Jawohl, Onkel.« Von ihm daran erinnert zu werden, dass da noch andere, gewichtigere Angelegenheiten über meinem Haupt schwebten, dämpfte meine Stimmung noch gründlicher.
Am Eingang zum Verwaltungsgebäude verabschied e ten wir uns von ihm. Spink und ich schauten ihm nach, während er die Treppe hinaufstieg und das Haus betrat. Ich glaubte, für einen Augenblick Caulder zu sehen, als die Tür geöffnet wurde. Von dem Jungschnösel hatte ich die Nase mehr als voll, und nachdem ich gesehen hatte, wie sehr Epiny ihn verachtete, wollte ich schon gar nichts mehr mit ihm zu tun haben. Mir wäre lieber gewesen, ich hätte die Szene zwischen den beiden nicht mitbeko m men; Caulder würde nicht vergessen, dass ich Zeuge se i ner Demütigung geworden war.
Spink und ich schulterten unser Gepäck und begaben uns nach Haus Carneston. Auf halbem Wege dorthin sa g te Spink plötzlich leise: »Epiny geht mir nicht aus dem Kopf. Sie … ist mit niemandem zu vergleichen.«
Ich spürte, wie ich leicht errötete. »Das ist eine nette Art, es auszudrücken«, erwiderte ich schroff. Ich fand es ein bisschen unfair von Spink, darauf hinzuweisen, wie seltsam sie sich benommen hatte. Er musste sich doch
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