Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
ihre Gesichtszüge waren entgleist. Ihre Augäpfel, deutlich zu sehen unter ihren halb geöf f neten Lidern, zuckten hin und her und auf und ab wie Murmeln, die man in einer Blechdose schüttelt. Sie nahm einen tiefen, schnarrenden Atemzug durch die Nase und ließ die Luft durch den Mund wieder entweichen. Eine kleine Speichelblase bildete sich zwischen ihren Lippen.
»Igitt!«, stieß ich in leisem Entsetzen hervor, angew i dert von der schamlosen Theatralik meiner Base. Dies war noch weit schlimmer als das, was sie in der Nacht zuvor zum besten gegeben hatte.
»Sei still!«, zischte Spink erneut. »Spürst du denn nicht, wie ihre Hand sich verändert? Das ist echt!«
Ihre kleine Hand fühlte sich sehr warm an im Ve r gleich zu der kühlen, schwieligen von Spink. Bis dahin hatte ich gar nicht bemerkt, wie warm sie war. Doch als Epinys Kopf zum ersten Mal erst zurück in den Nacken und dann nach vorn auf ihre Brust fiel, wurde ihre Hand plötzlich kälter. Binnen weniger Sekunden hatte ich das Gefühl, als hielte ich die Hand einer Leiche umklammert. Ich wechselte besorgte Blicke mit Spink. Dann sprach Epiny. »Lasst nicht los«, flehte sie uns an. »Lasst mich hier nicht verloren gehen, in diesem Wind!«
Ich war kurz davor gewesen, ihre Hand loszulassen. Nun hielt ich sie ganz fest. Ihre kleinen Finger klamme r ten sich an meine, als hinge ihr Leben davon ab.
»Hören wir damit auf«, sagte Spink leise. »Epiny, ich dachte, du spielst ein Spielchen mit uns. Dies ist … bitte. Lass uns damit aufhören. Es gefällt mir überhaupt nicht.«
Sie gab einen Laut von sich, ein hässliches Geräusch irgendwo zwischen einem Würgen und einem Seufzen. Sie schien um die Gewalt über ihre eigene Stimme käm p fen zu müssen. Dann: »Ich kann nicht«, murmelte sie. »Ich kann das Fenster nicht schließen. Sie sind die ganze Zeit über hier.«
»Genug!«, sagte ich. Ich versuchte, Epinys Hand lo s zulassen, aber sie klammerte sich mit übernatürlicher Kraft an meinen Fingern fest.
»Da kommt etwas«, flüsterte sie. Ihr Kopf hob sich ein wenig und sackte dann wieder auf ihre Brust. Und dann fühlte ich, wie sich etwas in ihr veränderte. Ich kann bis heute nicht erklären, was da passierte. Es war irgendwie so, als würde man durch einen Regenschleier auf eine schmutzige Fensterscheibe schauen und eine Gestalt s e hen und dann plötzlich erkennen, wer da draußen war. Bis dahin hatte ich die Geräusche, die sie von sich gab, und die Grimassen, zu denen sich ihre Züge verzerrten, für ein selbstsüchtiges und schäbiges kleines Spiel geha l ten, das sie spielte, um ihren Schabernack mit uns zu treiben. In diesem Moment wurde es plötzlich zu etwas viel Gefährlicherem. Sie hob den Kopf, aber er schwan k te unsicher auf ihrem Hals hin und her. Sie sah mich an, aber j emand Anderes schaute aus ihren Augen. Der Blick, den sie auf mich richtete, war müde und erschöpft und alt.
»Wir waren nicht tot«, sagte sie leise. Es war nicht Epinys Stimme. Sie sprach mit dem Akzent einer Frau aus dem Grenzgebiet. Einen Moment lang kniff sie fest die Augen zu, und Tränen liefen ihr aus den Augenwi n keln. »Ich war nicht tot. Mein kleiner Junge war nicht tot. Wir waren nur so lange krank gewesen. Ich konnte h ö ren, wie sie sprachen, aber ich konnte mich nicht b e merkbar machen. Sie sagten, wir seien tot. Sie nähten uns zusammen in einen Leichensack ein. Ihnen waren die Särge ausgegangen. Wir wachten unter der Erde auf. Wir konnten nicht raus. Ich versuchte es. Ich versuchte, uns zu befreien. Ich kratzte mit meinen Nägeln an dem Sege l tuch. Ich biss hinein und versuchte, es mit den Zähnen aufzureißen, bis mein Zahnfleisch blutig war. Wir sta r ben dort, in jenem Sack unter der Erde. Und überall um uns herum hörten wir in jener Nacht an jener Begräbni s stätte andere auf die gleiche Art sterben. Wir starben. Aber ich habe ihre Brücke nicht überquert.«
Ihre Stimme klang nicht wütend, sondern bloß traurig. Sie schaute mich sehr ernst an. »Wirst du das bitte in E r innerung behalten? Behalt es in Erinnerung. Denn es wird andere geben.«
»Das werde ich«, versprach ich. Ich glaube, ich hätte alles gesagt, um dieser armen Seele Trost zu spenden. Epinys Augen wurden trübe und teilnahmslos, und der Gesichtsausdruck der Frau schwand aus ihrem Gesicht. Zurück blieben ihre Züge, weich und unfertig.
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, erleichtert, dass es vorbei war. »Epiny?«, rief ich und schüttelte ihre kleine
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