Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
dachte, die Brücke würde ha l ten. Nachdem der größte Teil der Patrouille drüben war, wurde mir klar, dass ich dich als Ersten hätte rüberschi c ken müssen, als sie noch die größte Stabilität hatte. Aber zu dem Zeitpunkt erschien es mir wichtiger, zuerst so viele Männer wie möglich rüberzukriegen.«
»Und in einer Kampf- oder Patrouillensituation hättest du damit auch Recht gehabt. Du hast einen guten Instinkt fürs Führen, Nevare.«
»Danke«, sagte ich verlegen. Und ich wurde noch ve r legener, als ich ihn fragte: »Hast du mich deshalb heute zum Anführer vorgeschlagen?«
Er schaute mir in die Augen, und ich sah, dass sein Blick voller Schuld war. Er errötete heftig, und dann sa g te er: »Nein, ich hatte keine Ahnung, dass du es schaffen würdest. Ich … ich habe es auf Befehl getan, Nevare. Maw hat es mir befohlen. Ich hatte keine Ahnung, was uns heute bevorstand, aber letzte Woche, als wir aus der Klasse rausgingen, nahm er mich beiseite und sagte: ›Es wird ein Moment kommen, wo ich Ihnen sagen werde, Sie sollen sich in Gruppen aufteilen und einen Anführer aus Ihren Reihen wählen. Wenn dieser Moment kommt, schlagen Sie den Kadetten Nevare Burvelle vor. Wenn Sie es tun, werde ich darüber hinwegsehen, dass Sie bei der heutigen Aufgabe Mist gebaut haben. Wenn Sie es nicht tun, gebe ich Ihnen die Note, die Sie dafür verdient hätten.‹ Ich, nun, ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen außer Jawohl, Sin. Und als er heute den Patroui l len befahl, sich einen Anführer auszusuchen, schaute er mich direkt an. Also schlug ich dich vor.«
»Ich fasse es nicht!«, presste ich leise hervor. Was Gord mir da gerade erzählt hatte, war bestürzend, aber ich begriff auch nicht, was es zu bedeuten hatte. »Ich weiß nicht, warum er das von dir verlangt hat. Hat er g e glaubt, dass ich es vermasseln würde, was ich ja auch habe, und er uns dann alle aussondern kann? Mach nicht so ein entsetztes Gesicht, Gord. Du musstest es tun. Er hat es dir befohlen. Aber ich wünschte mir …« Ich hielt inne, weil ich nicht sicher war, was ich mir eigentlich wünschte. Ich war plötzlich überzeugt, dass weder Trist noch Spink auf die Antwort auf Maws Rätsel gekommen wären. Wenn es denn überhaupt ein Rätsel gewesen war. Ich schüttelte den Kopf. »Ich war so sicher, dass ich des Rätsels Lösung gefunden hatte. Dass die Aufgabe darin bestand, die Patrouille über den Bach zu kriegen, und nicht darin, eine Brücke zu bauen.«
»Ich glaube, du hattest Recht. In dem Moment, als du es aussprachst, war ich sicher, dass du Recht hattest. Es erschien mir einfach einleuchtend: Wenn wir auf einer richtigen Patrouille auf ein Hindernis wie dieses gestoßen wären, hätten wir dann angehalten und eine Brücke g e baut, oder hätten wir nicht einfach versucht, den schnellstmöglichen Weg hinüber zu finden?«
»Wir wären einfach rübergegangen«, sagte ich ge i stesabwesend. Ich wusste plötzlich, was mich so störte. Ich hatte gewollt, dass wenigstens einer von meinen Freunden mich als echten Anführer sah. Selbst wenn es nur Gord war. Ich fragte mich jetzt, ob Trist womöglich auch einen Befehl von Maw bekommen hatte. Hatte er deshalb so schnell nachgegeben? Ich fühlte mich völlig niedergeschlagen. Keiner meiner Freunde hatte mich je angeschaut und mein Potential zum Führen gesehen. Weil sie alle wussten, dass es schlicht nicht existierte.
Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück. Ich zog meine Ersatzuniform an und beschloss, Gords Angebot anzunehmen, ihm meine verdreckten Sachen zum Reinigen mit nach Hause zu geben. Meine Niede r geschlagenheit stand in einem seltsamen Kontrast zu der Stimmung meiner restlichen Kameraden. Trotz der Au s sonderung, die immer noch wie ein Damoklesschwert über uns hing, schienen sie ihre Unsicherheiten beiseite geschoben zu haben. Sie machten sich für einen Abend in Alt-Thares fein und diskutierten aufgeregt ihre Pläne für den Dunkelabend. Auf dem Großen Platz sollte ein Nachtmarkt stattfinden, auf dem alle möglichen Dinge feilgeboten wurden, und das zu günstigsten Preisen. Auf der angrenzenden Wiese hatte ein Zirkus mit einer Schaubude seine Zelte aufgeschlagen. In der Schaubude traten Akrobaten, Gaukler, Jongleure, Tierbändiger und alle möglichen Missgeburten auf. Alle warfen sich in Schale und zählten ihr Taschengeld. Ich fühlte mich zw i schen ihnen wie ein Fremder, als ich Haus Carneston wieder verließ und mich auf den Weg zu Maws Büro machte.
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